Analyse

Berlin-Wahl 2023: Reichen 105 Stimmen mehr, um zu regieren?

| Lesedauer: 4 Minuten
Gilbert Schomaker
Giffey will mit "stabiler Mehrheit" weiter in Berlin regieren

Giffey will mit "stabiler Mehrheit" weiter in Berlin regieren

Berlins amtierende Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey hat trotz massiver Stimmeneinbußen für die SPD das Ziel, stärkste Kraft in einer neuen Landesregierung zu werden. Wer regieren wolle, müsse es schaffen, "eine stabile politische Mehrheit zu organisieren", sagte Giffey mit Blick auf die weit vorn liegende CDU um ihren Spitzenkandidaten Kai Wegner (CDU). Allerdings räumte sie ein: "Die Berliner sind nicht zufrieden."

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Der Vorsprung der SPD auf die Grünen bei der Berlin-Wahl 2023 ist knapp. Reicht das für Franziska Giffey, um weiter zu regieren?

Es ist die Frage am Morgen danach. Am Montag, wenn die SPD verkatert aus der Wahlnacht in die Aufarbeitung startet: Reichen berlinweit 105 Stimmen vor den Grünen, um das Rote Rathaus zu verteidigen? Können die Sozialdemokraten, die seit mehr als 20 Jahren Berlin regieren, die immer den Anspruch hatten, DIE Berlin-Partei zu sein, können diese Sozialdemokraten mit 18,4 Prozent der Stimmen und berlinweit 105 Stimmen vor den Grünen noch Anspruch auf den Job der Regierenden Bürgermeisterin haben? Heute wird viel telefoniert werden, denn es geht um die Macht in der Hauptstadt und um die Glaubwürdigkeit der Politik.

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Obwohl das vorläufige amtliche Endergebnis bei ihren öffentlichen Auftritten am Sonntagabend noch nicht feststand, sah man der Noch-Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey an, dass sie um die Gefahr weiß, dass ihr alles zu entgleiten droht. Denn es waren die Grünen, die am Abend immer wieder einen Machtanspruch aufs Rote Rathaus erhoben hatten. So betonte Spitzenkandidatin Bettina Jarasch, sie wolle, wenn es geht, in der gleichen Konstellation wie bisher weiterregeren, „aber am liebsten unter grüner Führung“. Genau das ist das Problem. Kann die SPD mit berlinweit 105 Stimmen vor den Grünen, diesen Anspruch abwehren? Ist eine Koalition mit den Grünen als Juniorpartner bei eigentlich gleichem Stimmenanteil möglich? Im Wahlkampf hatten sich zuletzt Giffey und Jarasch deutlich voneinander entfernt.

Lesen Sie hier: Wer wird Bürgermeisterin oder Bürgermeister? Diese Koalitionsmöglichkeiten gibt es nach der Berlin-Wahl.

Giffey spricht von einer „Neuaufstellung“, die nun nötig sei. Wie soll das glaubwürdig gehen, wenn absehbar ist, dass ein rot-grün-rotes Bündnis im Dauerstreit um Wettbewerbsvorteile liegen könnte? Denn wieso sollten die Grünen, die mit 18,4 Prozent nur unwesentlich unter ihrem besten Berlin-Ergebnis aller Zeiten lagen, nicht alles daran setzen, in einem nächsten Senat die Weichen auf eine Machtübernahme bei der nächsten Wahl zu stellen? Das Selbstbewusstsein der Grünen hat zumindest nach außen nicht gelitten.

Am Sonntagabend tranken viele Sozialdemokraten auf ihrer Wahlparty Schnaps. Mit Hochprozentigem gegen den Prozente-Verlust. Die Wähler, das geht aus ersten Analysen hervor, haben vor allem die SPD für das Nicht-Funktionieren der Stadt verantwortlich gemacht. Da wirkte es irgendwie deplatziert, wenn Giffey betonte, dass sie doch erst seit einem Jahr regiere und nicht alle Versäumnisse der vergangenen 20 Jahre aufarbeiten könne. Das historisch schlechteste Ergebnis der SPD ist vor allem aus der Enttäuschung der Berlinerinnen und Berliner gewachsen, die der SPD offensichtlich nicht mehr zutrauen, die Probleme der Stadt zu bewältigen. So ist es zu erklären, dass über 50.000 Wähler von Giffey und der SPD abgewendet haben — hin zu einer CDU, die im Wahlkampf vieles im Unklaren ließ, aber damit punkten konnte.

Wer am Montagmorgen auf die Wahlkarte schaut, sieht, dass Berlin in fast allen Außenbereichen schwarz geworden ist, in der Mitte der Stadt dominieren weiterhin die Grünen. Die SPD hat fast alle Wahlkreise verloren. Das bedeutet: Auch die bezirkliche Machtbasis bricht den Sozialdemokraten weg, ganz zu schweigen von den vielen Mandaten, die zuvor in den Wahlkreisen gewonnen worden waren. Es gibt prominente Opfer: Ex-Finanzsenator Matthias Kollatz oder der Innenexperte Tom Schreiber verloren ihre Wahlkreise. Selbst Giffey und ihr Co-Landesvorsitzender, Fraktionschef Raed Saleh, erreichten vor der eigenen politischen Haustür keine Stimmenmehrheit mehr.

Franziska Giffey war als Bundesfamilienministerin, als Hoffnungsträgerin geholt worden, um die SPD in Berlin wieder aus der Dreier-Koalition zu befreien, in der sie unter Michael Müller gerutscht war. Dann musste sie ihr Amt wegen der Doktortitelaffäre aufgeben, rettete sich aber in die Berliner Landespolitik und knapp ins Rote Rathaus. Aber nun wird es eng für Franziska Giffey.