Justiz

Amokfahrt in Berlin: Gutachter sieht vorsätzliches Handeln

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Alexander Rothe
An der Ecke Tauentzienstraße/Marburger Straße endete die tödliche Fahrt von Gor H. War er zum Tatzeitpunkt zurechnungsfähig? (Archivbild)

An der Ecke Tauentzienstraße/Marburger Straße endete die tödliche Fahrt von Gor H. War er zum Tatzeitpunkt zurechnungsfähig? (Archivbild)

Foto: Christoph Soeder / dpa

Ein Gutachter wirft dem mutmaßlichen Amokfahrer Vorsatz vor. Die Staatsanwaltschaft will ihn in eine psychiatrische Klinik einweisen.

Berlin.  Der 8. Juni 2022 war ein sonniger Tag in Berlin. Die Straßen der City West waren gefüllt mit Flanierenden und Touristen – darunter auch eine Schulklasse aus Hessen, die am Kurfürstendamm unterwegs war. Für sie sollte es einer der dunkelsten, schrecklichsten Tage ihres Lebens werden, nachdem ein Fahrer sein Auto auf den Gehweg lenkte und dabei einen Teil der Klasse und weitere Menschen erfasste. 16 Personen wurden an diesem Mittwoch teils lebensgefährlich verletzt, eine Lehrerin erlag ihren Verletzungen noch vor Ort.

Gor H. leidet seit 2014 an paranoider Schizophrenie

Fast auf den Tag genau acht Monate später begann am Dienstag der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter Gor H. vor dem Berliner Landgericht. Der Beschuldigte ist nach der Tat in einem Krankenhaus des Maßregelvollzugs untergebracht worden. „Das wird aller Voraussicht nach kein streitiges Verfahren werden“, zeigte sich der Rechtsanwalt des Beschuldigten Mark Höfler zuversichtlich. „Er hat keinen Zugang zum Geschehen und keine Erinnerung.“ Seit 2014 leide sein 29-jähriger Mandant an paranoider Schizophrenie und habe sich zum Tatzeitpunkt in einem psychotischen Zustand befunden.

Angesichts seiner gesundheitlichen Lage werde H. keine Aussagen treffen. „Sonst hätten wir sicherlich dazu beigetragen, dass es noch kürzer wird“, meinte Höfler im Hinblick auf den Prozess. Dennoch betonte er, dass es H. ausdrücklich leid tue, was er den Opfern angetan hat.

Die Krankheit des Beschuldigten wurde auch in einem vorläufigen psychiatrischen Gutachten festgestellt und führte zur Forderung der Staatsanwaltschaft, H. in ein psychiatrisches Krankenhaus einzuweisen. Staatsanwältin Silke van Sweringen wirft ihm „Heimtückenmord“, 16 versuchte Morde sowie Fahrerflucht vor. Der Vorwurf des absichtlichen Handelns werde durch den Bericht des Unfall-Sachverständigen Dietmar Severin erhärtet.

Videos: Gor H. reduzierte Geschwindigkeit, bevor er auf Gehweg fuhr und beschleunigte

Dieser legte am ersten Prozesstag in einer akribischen Analyse des Tathergangs dar, warum er Gor H. Vorsatz unterstellt. In mehreren Videosequenzen, die von Überwachungskameras aus den umliegenden Geschäften des Kurfürstendamms stammen, wurde die Fahrt des Beschuldigten rekonstruiert. An der Kreuzung Kurfürstendamm/Joachimsthaler Straße ist H.s Auto, ein silberner Renault Clio, an der Ampel zu sehen. Nichts deutet bis dato auf das hin, was kommen soll.

In Höhe des Telekom-Shops am Kurfürstendamm hatte H. laut Gutachter sogar noch seine Geschwindigkeit auf rund 24 Kilometer pro Stunde verringert, bevor er sein Fahrzeug beschleunigte und auf den Gehweg steuerte. „Er muss das Gaspedal voll durchgetreten haben“, erklärte Severin den rasanten Tempozuwachs. Seine Analyse decke sich mit den Aussagen von Zeugen, die ein lautes Aufheulen des Motors vernommen haben wollen. Bei der Kollision mit den Passanten war das Fahrzeug ungefähr 45 km/h schnell, so der Experte.

Auf einem weiteren Video waren mehrere Personen zu sehen, wie sie auf der Motorhaube des Renaults mitgerissen wurden. Detailliert führte Severin durch die Aufnahmen der Tat, die so viel Leid für die betroffenen Menschen gebracht hat.

Beschuldigter wirkt abwesend während des Prozesses

Gor H., der mit Maske über seinem Mund in einem Glaskasten saß, schaute der Präsentation regungslos zu. Zu Beginn des Prozesstages wurde dem gebürtigen Armenier, der die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, noch jedes Wort von einem Dolmetscher übersetzt. Aufgrund der Lautstärke der Übersetzungstätigkeit wurde diese vom Richter Thomas Groß während des Sachverständigenberichts jedoch eingestellt. Die Frage, ob er Deutsch spreche, bejahte H. zwar. Trotzdem schien er im folgenden Verlauf meist abwesend.

Insbesondere als Severin auf die Schäden am Auto des Beschuldigten zu sprechen kam, senkte H. immer wieder den Blick. Auf den Fotos des Gutachtens waren mehrere Einschlaglöcher auf der Frontscheibe zu sehen, die von der Wucht des Aufpralls der Opfer auf der Fahrzeugfront zeugten. Unter den Opfern war die Lehrerin der hessischen Schulklasse, die vermutlich bei der Kollision des Wagens mit einer Litfaßsäule von der Motorhaube rutschte, vorne unter das Fahrzeug geriet und an den Verletzungen starb.

Sachverständiger: Fahrverhalten von Gor H. nur durch Vorsatz zu erklären

„Trotz der kaputten Scheibe war es möglich, durch die Scheibe zu schauen“, betonte Severin. Daher habe H. durchaus sehen können, wohin er fährt. Auf dem letzten Abschnitt seiner Todesfahrt habe er sein Auto an der Ecke Tauentziehenstraße/Marburger Straße mit einer Geschwindigkeit von circa 50 km/h nach rechts durch eine enge Gasse zwischen einem stehenden Fahrzeug und einer Laterne geführt. Dabei wurden weitere Personen vom Fahrzeug erfasst, bevor dieses in der Filiale eines Parfümerie-Geschäfts zum Stehen kam.

Reifenspuren, die durch das Abbiegen bei hohem Tempo entstanden seien, zeugten laut Severin davon, dass H. sein Auto nicht gebremst, sondern lediglich gelenkt habe. Da das Auto zudem keine technischen Mängel aufgewiesen habe, sei das Fahrverhalten von H. nur durch Vorsatz zu erklären.

Sachverständiger: „Betroffene hatten Glück im Unglück“

Die betroffenen Personen, die entweder angefahren und streckenweise auf der Motorhaube mitgenommen wurden, hätten laut Severin Glück im Unglück gehabt: „Aus technischer Sicht hätten durchaus mehr Menschen getötet werden können.“

In den nächsten Prozesstagen will Richter Groß einen Lehrer der hessischen Schulklasse anhören, der ebenfalls von H. erfasst wurde und überlebte, sowie mehrere Augenzeugen. Den betroffenen Schülerinnen und Schülern will er hingegen ersparen, vor Gericht auszusagen. Sie sollten stattdessen die Möglichkeit erhalten, schriftliche Stellungnahmen einzureichen. Die Gefahr sei zu groß, durch den Prozess re-traumatisiert zu werden.