Berlin. Vorsichtig kommt Wolfgang Nieblich mit dem versprochenen Kaffee in die Galerie zurück. Zwischen den kunterbunten Objekten seiner neuen Ausstellung „Mal-Klötzer“ ist der 74-Jährige ein in sich ruhender Gegenpol. Braune Hose, braune Jacke und eine Art, die nicht umgehend Kenntnis einfordert, sondern mit Geduld erzählt. Von sich und seiner Kunst. Glück gehabt. Künstlerseelen können auch anders drauf sein.
Der Text am Eingang der Galerie in der Pfalzburger Straße in Wilmersdorf erklärt das Konzept. Malklötze, die von sechs Seiten bemalt sind. Kunst, die aufgehängt wird oder auf Sockeln steht. Die Werke heißen Welthölzer oder Zündholz. Manche einfach Malklotz. „Es wäre mühsam gewesen, allen Namen zu geben.“
Künstler, Programmierer, Autor, Musiker, Bühnenbildner
Wolfgang Nieblich hat in seinem Leben so ungefähr alles gemacht, was es gibt. Er hat Medizinbücher illustriert, nach denen noch heute operiert wird. Er hat einen der ersten Computer der Welt gebaut, schreibt Bücher und Musik, erschafft Bühnenbilder für Theater, malt, sägt, schraubt und ist ein seit Jahrzehnten weltweit erfolgreicher Künstler.
„Wer fünf oder sechs Sprachen spricht, der lernt auch schnell vier neue dazu“, erklärt der im Jahr 1948 in Reutlingen geborene Künstler. Aber er habe eben auch immer zur richtigen Zeit, die richtigen Menschen getroffen. Wie seine heutige Frau Catherine Nicely. Sie hat die Biografie „Mauersplitter“ über ihn verlegt, die auf dem Tisch liegt. Ein Bild zeigt Nieblich in der 1970er-Jahren. Lange Haare und Sonnenbrille.
Unverschämt kreativ und immer auf den Punkt
Er blättert durch die Seiten des Buches. Wenn er an die Stelle einer seiner zahlreiche Coups kommt, dann freut er sich diebisch. In Paris baute er mal mit 20.000 Büchern die Grundmauern der Nationalbibliothek nach. Als ihn mal vor seiner Galerie im Wilmersdorf Betonquader stören, die oberirdisch provisorisch verlegte Rohrleitungen tragen, pinselt er mit schwarzer Farbe ein Zitat aus einem Buch an die Wände. Die Idee gefiel Anwohnern und Firma, sodass Nieblich bis heute 65 Betonhalter in ganz Berlin verzieren durfte.
Lesen Sie dazu auch:Stein der Weisen
In seiner letzten Ausstellung erfand er sogenannte Reißverschlussbilder. Bilder, die sich öffnen lassen und sich darunter ein weiteres Bild verbirgt. „Eine Weltneuheit. Das gab es auf dem Kunstmarkt noch nicht“, sagt der Künstler. Nieblich ist unverschämt kreativ. Aber seine Ideen müssen nicht zehnmal um die Ecke gedacht werden. Es ist die Selbstverständlichkeit, mit der er sie ausführt und für sich sprechen lässt. Ist das am Ende die Kunst? „Du musst aber auch hartnäckig sein. Und ohne Biss wird es nichts.“ Und den hat er sich ein Leben lang bewahrt.
Als kleiner Junge in den Osten und die Werkstätten des Großvaters
Seine Vielfältigkeit zeigt sich indes nicht nur in seinen Bildern, Objekten und Grafiken, sondern auch an den Erfahrungen entlang seines Lebensweges. Vielleicht erklärt dieser auch am besten, wie es soweit kommen konnte. Als er sechs Jahre alt ist, trennen sich die Eltern. Nieblich zieht daher als Junge nach Kahla in Thüringen. Der Großvater hat dort zahlreiche Werkstätten. Buchdruck, Schlosserei oder Porzellan.
„Mein Großvater war die Figur, die mich am meisten geprägt hat.“ Nieblich wächst also ab 1954 im Osten der geteilten Bundesrepublik auf. Ab 1961 verhindert die Mauer künftige Reisen in die alte Heimat. Der Obrigkeit der DDR ist er früh ein Dorn im Auge. Er schreibt Gedichte, malt Bilder und steht auch mal mit der Liedermacherin Bettina Wegner in Weimar auf der Bühne. „Seit ich 16 war, überwachte mich die Stasi“, erzählt Nieblich.
Er wird Facharbeiter für Datenverarbeitung und Programmierung bei Carl Zeiss in Jena. 1966 stellt er auf der Messe der Meister einen der ersten jemals gebauten Computer aus. Anschließend studiert er Mathematik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Bleibt jedoch ohne Abschluss. Danach zieht er schließlich nach Ost-Berlin und studiert von 1970 bis 1974 Malerei und Graphik an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee.
Von den Leichenhallen in Steglitz in die Kunsthallen der Welt
Nach seinem Abschluss steht der Möbelwagen für Ausreise nach West-Berlin schon vor der Tür. Ein paar Westmark in der Tasche beginnt das neue Leben auf der anderen Seite der Mauer. Weil das Geld für die junge Familie knapp ist, – der damals 27-Jährige hat eine Frau und einen Sohn zu versorgen – illustriert Nieblich medizinische Atlanten. In Steglitz in der Pathologie führt er an Leichen jene Operationen durch, die er später zeichnen soll. „Ich habe mich in Jena in ein paar medizinischen Vorlesungen rumgetrieben“.
Einige Professoren interessieren sich wohl auch für seine Kunst. „Die hatten schließlich Geld.“ Seine erste Ausstellung in West-Berlin wird wohlwollend rezensiert und von da an gibt es kein Halten mehr. Ab 1982 startet er richtig durch. Das Thema Buch wird zum zentralen Kern seiner Arbeiten. Sein ikonisches Werk „Buchweizen“ geht als Postkarte und Kunstdruck um die Welt. „Von da an lief es, kann man so sagen.“
Der schiefe Turm von Riesa bleibt bis heute unverwirklicht
Mehr als 500 Ausstellungen weltweit hat er inzwischen inszeniert. Zahlreiche Bücher geschrieben. Nur ein Traum blieb unverwirklicht. „Ich wollte mal in Riesa den schiefen Turm von Riesa bauen lassen.“ Ohne Witz. Das Projekt war sogar schon in der Planungsphase. In den um sechs Prozent geneigten Turm am Poppitzer Platz sollte Kunst, Kultur und ein Restaurant einziehen. Der damalige Oberbürgermeister war begeistert. Aber der Turmbau scheitert nachdem der Bürgermeister wegen Korruptionsvorwürfen in Misskredit kam.
„Das wäre so ein Lebenstraum, den ich noch verwirklichen will.“ Neben solchen Ideen wirkt die Werkstatt im Nebenhaus überraschend unspektakulär. Konzeptzeichnungen oder eine Staffelei sucht man vergebens. Stattdessen ein paar fast leere Farbtuben. Eine Tischsäge. Viel Krimskrams. Über dem Eingang hängen Teile einer alten Installation. Nieblich zündet sich einen Zigarillo an und öffnet die Tür zur „Wunderkammer“.
Die sogenannte Wunderkammer ist ein Raum mit Büchern, Werken und liebgewonnenen Gegenständen. Großartige Erklärungen zu den Inhalten der Kammer liefert er nicht. Er drückt den Zigarillo aus. Das mit dem Rauchen habe er auch mal zehn Jahren gelassen. Jetzt noch mal aufhören? „Ne. Ich bin alt genug.“ Wolfgang Nieblich ist keiner, der zaudert. Er macht einfach. Und die Kunst ist, dass es ihm meist gelingt.
Die Ausstellung „Mal-Klötze“ ist noch bis 20. Januar in der Galerie in der Pfalzburger Straße 69 in 10719 Berlin zu sehen.
Lesen Sie mehr aus Charlottenburg-Wilmersdorf.