Polizeibilanz

Mehr respektlose und gewalttätige Kinder und Jugendliche

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„Wer ein Messer mitführt, benutzt es im Zweifel leider auch", sagt Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik.

„Wer ein Messer mitführt, benutzt es im Zweifel leider auch", sagt Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik.

Foto: PA/MARTIN RUETSCHI / PA/KEYSTONE

Die Zahl gewalttätiger und respektloser Kinder und Jugendliche hat in Berlin zugenommen. Ein Detail sorgt die Politik besonders.

Berlin. Anfang Juli ging ein 15-Jähriger im James-Simon-Park in Mitte mit einer abgebrochenen Glasflasche auf einen ein Jahr Älteren los und verletzte ihn an Hand, Hals und Kopf. Am 18. Dezember stach ein 17-Jähriger in Tegel auf einen 16 Jahre alten Kontrahenten ein, bis der blutend zusammenbrach. Der jüngste der vier Angreifer, die Ende Mai einen 24-Jährigen auf dem RAW-Gelände in Friedrichshain wortlos zu Boden schlugen und dann auf ihn eintraten, war gerade einmal 13 Jahre alt.

Drei Fälle, in denen Kinder und Jugendliche in Berlin im ablaufenden Jahr zu Gewalttätern wurden. Bei den sogenannten Rohheitsdelikten – also Raubüberfällen und Körperverletzungen – verzeichnete die Berliner Polizei mit mehr als 500 Verdächtigen unter 18 Jahren einen deutlichen Anstieg. „Im Langzeitvergleich haben wir in diesem Jahr die höchste Belastung der letzten Jahre“, sagte Polizeipräsidentin Barbara Slowik.

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Die starke Zunahme stellte die Polizei vor allem von März bis Juli fest. Die Taten wurden dabei häufig in Parks und Grünanlagen wie der Hasenheide oder dem Gleisdreieck, dem Monbijou-, James-Simon-, Mauer- oder Treptower Park regis­triert. Auch der Leopoldplatz in Wedding und Bereiche in Spandau gehörten nach Polizeiangaben zu den häufigen Tatorten. Weniger Taten wurden hingegen an den klassischen Problemorten wie dem Alexanderplatz, dem Kottbusser Tor, am Görlitzer Park, um die Warschauer Brücke und entlang der Karl-Marx-Straße verzeichnet.

„Das müssen wir uns genau ansehen“, sagte Slowik. Kriterien wie Wohnort, Motiv, Lebens- und Begleitumstände müssten analysiert werden. Der Anstieg der Taten mit Kindern und Jugendlichen als Täter besorge sie. Von den rund 500 Tatverdächtigen waren 2022 insgesamt 141 bis 13 Jahre alt – 2021 waren es lediglich 80. Die Zahl bei den Jugendlichen bis einschließlich 17 Jahre stieg von 234 auf 369.

„Wer ein Messer mitführt, benutzt es im Zweifel leider auch“

Die Angriffe würden häufig untereinander geschehen, so die Polizeichefin weiter. Dass dabei auch Stichwaffen eingesetzt würden, habe leider zugenommen. „Wer ein Messer mitführt, benutzt es im Zweifel leider auch“, betonte Slowik. „Das Eskalationspotenzial bei der Austragung von Konflikten wird durch Messer immer auf ein lebensbedrohliches Niveau gehoben. Kindern und Jugendlichen ist diese Tragweite oft nicht bewusst“, sagt die Polizeipräsidentin.

In Deutschland können Kinder unter 14 Jahren nicht für ein Verbrechen bestraft werden. Das Gesetz spricht dann von der „Schuldunfähigkeit des Kindes“. Allerdings können sich das Jugendamt oder der Vormundschaftsrichter einschalten, den Eltern kann auch das Sorgerecht entzogen werden. Straftäter im Alter zwischen 14 und 17 Jahren gelten als Jugendliche und damit als „bedingt strafmündig“.

Jugendliche vertreiben Polizisten aus "ihrem Revier"

Mit Sorge sehe die Polizei auch das Phänomen der Respektlosigkeit in bestimmten Stadtteilen, sagte Slowik. In Neukölln hätten an Halloween Gruppen von Jugendlichen den Polizisten erklärt, sie könnten jetzt gehen, weil das ihr Revier sei. Aber auch in anderen deutschen und europäischen Großstädten etwa in Skandinavien sei die Zunahme von Gewaltdelikten und Respektlosigkeit Jugendlicher festzustellen. „Das müssen wir im Auge behalten. Wir sind dazu auch im Austausch mit den Polizeibehörden anderer großer Städte.“

Einen Grund dafür sieht der Kinderpsychologe Thilo Hartmann in den Einschränkungen während der Corona-Pandemie. „Diese Altersgruppe musste währenddessen viel zurückstecken, wobei gleichzeitig Hilfesysteme weggebrochen sind.“ So seien viele der Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe heruntergefahren worden, wo jungen Menschen sonst außerhalb der Familie niedrigschwellig geholfen werden konnte. „Gleichzeitig hat sich in vielen Familien die Lage zu Hause verschärft“, so Hartmann weiter.

„Corona und die Folgen des Krieges in der Ukraine bringen viele Menschen in Existenzängste, und die Verunsicherung von Eltern färbt sich auf ihre Kinder ab.“ Ob sich das umkehren lässt, bleibe abzuwarten, sagt der Kinderpsychologe. „Die große Frage ist, wie die Verunsicherung aufgelöst wird und wie betroffenen Jugendlichen wieder Orientierung geboten werden kann.“ Das Austesten von Grenzen und Regelübertritte seien allgemein Teil der kindlichen Entwicklung. Das müsse jedoch eingehegt werden.

Jugendliche haben in Krisen besonders großen Bedarf an Orientierung

Da die Spannungen auf absehbare Zeit bleiben dürften, sei auch der Bedarf von Jugendlichen an Orientierung umso größer, sagt Hartmann. „Wichtig sind dabei Jugendhilfeangebote, die sehr niedrigschwellig ansetzen – etwa Jugendklubs – und wo Jugendlichen vermittelt wird, wie sie an unserer Gesellschaft teilhaben können“, so der Psychologe weiter. „Wenn sich Menschen abgehängt fühlen und keinen Platz in der Gesellschaft finden, fühlen sie sich auch deren Regeln weniger verpflichtet.“

Es sei Aufgabe der Erwachsenen, den Kindern eine sichere Basis zu bieten, innerhalb derer sie sich entwickeln können. „Gewalttaten durch Kinder und Jugendliche sind oft der fehlgeleitete Versuch, erwachsene Probleme zu lösen, um grundlegende Bedürfnisse nach Unterkunft, Nahrung, Sicherheit sowie Anerkennung und Wertschätzung zu befriedigen.“

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( mit dpa )