Berlin. Draußen vor dem Rathaus Neukölln rauchen ein paar Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffentlichen Gesundheitsdienstes (öGD) ihre Zigaretten. Es ist kurz nach Schluss des Gesundheitsausschusses, zu dem sie vorbeigekommen sind, um dabei zu sein, wenn der derzeit kommissarische Gesundheitsstadtrat Martin Hikel (SPD) die neue Leitungsstruktur des Gesundheitsamtes Neukölln vorstellt.
Seit Monaten kriselt es dort. Aufgrund des Personalmangels und der -überlastung im öGD ist der Krisen- und Notdienst, die Telefonhotline des Neuköllner Sozialpsychiatrischen Dienstes (SpD), bis auf weiteres komplett eingestellt. Kündigung folgt auf Kündigung und dazu kommen Dauerausfälle durch Krankheit und Elternzeit.
Stockende Modernisierungsprozesse - allem voran die Digitalisierung – sind ein weiteres Problem, denn sie kommen im Gesundheitsamt nicht voran. Laborbefunde werden zum Teil noch per Fax übermittelt, einheitliche Softwares sind immer noch Zukunftsdenken. Dass der Öffentlichen Gesundheitsdienst in Neukölln ein Umdenken braucht, darin sind sich Verwaltung und Fachexperten einig. Bei der Frage, wie das aussehen soll, scheiden sich jedoch die Geister.
Neue Verwaltungsleitung soll modernisieren
Das Bezirksamt hat für die krisenhafte Situation nun eine Lösung gefunden: Statt einer fachärztlichen Leitung setzt das Bezirksamt auf eine „zukunfts- und leistungsfähige“ Verwaltungsleitung. Mit dieser will es das Neuköllner Gesundheitswesen modernisieren und digitalisieren.
Ziel der Neuorganisation, die als Neuköllner Modell bekannt ist, sei weiterhin, die bestmögliche Verwaltung aufzustellen und dem Amtsarzt zeitintensive administrative Aufgaben abzunehmen, so Hikel. Damit bliebe dem angestellten Amtsarzt mehr Freiraum und Zeit „für fachliche, medizinische oder wissenschaftliche Aktivitäten“.
Zuvor wurde das Gesundheitsamt vom Amtsarzt Dr. Nicolai Savaskan geleitet, der seit Ende August vom Bezirksamt freigestellt wurde. Ihm wird vorgeworfen, Gelder unrechtmäßig verausgabt, sich über Dienstanweisungen Blumenthals hinweggesetzt sowie sich im Ton vergriffen zu haben. Die Verwaltungsleitung war ihm zuvor nachgeordnet.
Mit der neuen Leitungsstruktur wird dies umgekehrt und die Verwaltung übernimmt nun die Verantwortung „für Personalangelegenheiten, für den Haushalt des Gesundheitsamtes und für die Organisationsgestaltung“ - darunter auch das Projekt der Digitalisierung, so Hikel.
Sowohl der Bundesverband der Ärztinnen im öGD als auch die Ärztekammern Berlins und Hessen sowie der Marburger Bund haben sich gegen ein solches Modell ausgesprochen.
Verwaltung bringt Rückstand statt Digitalisierung
Dass sich jetzt die Verwaltung um das Projekt Digitalisierung kümmert, ist aus Sicht Mesut Yavuz’, selbstständiger Prozess- und Organisationsberaters der Gesundheitsämter, unverständlich: „Es zeigt, dass der Begriff der Digitalisierung nicht verstanden wurde. Digitalisierung darf nicht in Verwaltungsakten gedacht, sondern muss nach den Bedürfnissen ihrer Nutzer*innen gestaltet werden.“
Eine Verwaltung als System stünde in ihrer bürokratischen Anlage einer Digitalisierung entgegen. Ganz im Gegenteil blockiere eine Leitungsübernahme durch sie weitere zukunftsorientierte Schritte: Ein Denken in bürokratischer Logik helfe dem Amt nicht in den Fortschritt, stattdessen führt es dazu, dass Behörden einen rückwärtsgewandten Stand haben, so Yavuz.
Einheitliche Software können Gesundheitsamt digitalisieren
Wie Digitalisierung eigentlich in den Ämtern neugestaltet werden sollte, zeigen Yavuz und der derzeit entlassene Neuköllner Amtsarzt Savaskan in einer Ausgabe der Ärztezeitung. Es brauche beispielsweise dringend eine einheitliche Software, mit der die Gesundheitsämter, aber auch interne Bereiche innerhalb eines Gesundheitsamtes miteinander digital kommunizieren können.
Auch die Mitarbeitenden wünschen sich „sehnlichst“ digitale Anpassungen: „Mitarbeitende können häufig nicht mobil arbeiten und sind weiterhin mit Papierakten beschäftigt“, kritisieren Yavuz und Savaskan in der Ärztezeitung.
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Entmachtung der Ärzteschaft in Neukölln
Jedoch nicht nur in Sachen Digitalisierung bürge die neue Verwaltungsleitung in Neukölln Gefahren. „Was die SPD plant, ist eine Entmachtung der Ärzteschaft im öffentlichen Gesundheitsdienst in Berlin“, kritisiert Christopher Förster, Mitglied der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus.
Denn durch die Verwaltungsleitung würden amtsärztliche Entscheidungen gedeckelt und die Funktion des Amtsarztes auf reine Zuarbeit degradiert werden, erklärt Vorsitzende des Landesverbands für Ärzte im ÖGD, Kristina Böhm: „Viele Entscheidungen sind in der Funktion als Amtsarzt zu treffen. Und da ist es wichtig, dass die Verantwortung bei den jeweiligen Amtskollegen liegt.“
Dabei seien allein Fachexperten qualifiziert, infektiologisch und epidemiologische Entscheidungen zu treffen und zu tragen, so Yavuz: „Während der Pandemie mussten Amtsärzte sich selbstbewusst gegen die Entscheidungen von Politiker*innen stellen, um dadurch auch Menschenleben zu retten.“ Er wirft dem Bezirksamt Neukölln vor, durch die neue Leitung unbequeme Forderungen von Fachexperten wie dem derzeit entlassenen Amtsarzt Savaskan zu verhindern.
Neue Leitung durch Verwaltung ist beschlossen
Das Bezirksamt bleibt jedoch hartnäckig – was beschlossen ist, bleibt beschlossen. Obwohl die krisenhafte Situation nicht abebbt und die Kritik lauter wird, hält das Bezirksamt an der Entscheidung fest. Hikel beruft sich auf Paragraf 3 des Berliner Gesundheitsdienstgesetzes (GDG), der die Neustrukturierung ermöglicht.
Hikel kündigte zudem an, mindestens bis Ende des Jahres die Vertretung der momentan krankgeschriebenen Gesundheitsstadträtin Mirjam Blumenthal (SPD) zu übernehmen.
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