Der Mittwoch ist für Maxim (4) immer ein ganz besonderer Tag. Denn da kommt ihn sein Freund Matthias für zwei Stunden in der Kita besuchen. Er kümmert sich nur um ihn, liest ihm etwas vor, geht mit ihm nach draußen, um Feuerkäfer zu suchen oder besonders große Bäume zu bestaunen. Maxims Freund Matthias heißt mit vollem Namen Prof. Dr. Matthias Bräutigam, er ist 73 Jahre alt, hat Jahrzehnte als Mediziner in der Arzneimittelforschung gearbeitet – und ist nun der Sprachpate von Maxim und anderen Berliner Kita-Kindern. Zusammen mit der ehemaligen Staatssekretärin Sawsan Chebli, die er aus der Abteilung Ku’damm der SPD kennt, hat er vor eineinhalb Jahren den Verein Sprachpat*innen für Kita-Kinder gegründet.
Dass die Berliner Kinder bei den Bildungs-Rankings regelmäßig so schlecht abschneiden, wundert Bräutigam schon lange nicht mehr. „Fast jedes fünfte Berliner Kita--Kind erhält keine hinreichende Unterstützung beim Erwerb der deutschen Sprache und dem damit verbundenen Allgemeinwissen“, sagt er: „Die Kinder müssen schon viel besser sprechen können, wenn sie zur Schule kommen. Sprache ist einfach der Schlüssel zur Bildung.“
Die ersten Erfahrungen in diesem Bereich sammelte Bräutigam vor zehn Jahren als Lesepate im ehrenamtlichen Projekt des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI). „Fast zehn Jahre lang habe ich an einer Weddinger Grundschule vorgelesen“, sagt er, „ein tolles Projekt, das viel Spaß macht. Aber ich habe auch gesehen: Das reicht so nicht. Den Rückstand, mit dem die Kinder in die Grundschule kommen, können sie während ihrer Schulzeit kaum wieder aufholen.“
Deshalb setzt der Verein Sprachpat*innen für Kita-Kinder auf eine frühe und individuelle Förderung. „Wir wollen die sprachschwachen Kinder möglichst schon ab drei Jahren in der Kita unterstützen, damit sie ihre Defizite bis zur Einschulung so gut es geht aufholen können“, erklärt Chebli. Wie wichtig Sprachkenntnisse sind, weiß Chebli aus eigener Erfahrung. Sie wuchs in Moabit als Tochter palästinensischer Flüchtlinge auf. Der verstorbene Vater war Analphabet, und die Mutter versteht fast nur Arabisch. „Von einem Kitabesuch hielten meine Eltern nichts, zu groß war ihre Angst, ich würde meine arabische Identität verlieren“, sagt Chebli. „Ich habe deshalb dann erst in der ersten Klasse richtig Deutsch gelernt.“ Zu spät, wie sie findet. „Je früher die Kinder gut Deutsch sprechen desto besser“, sagt Chebli.
Das Konzept des Vereins Sprachpat*innen für Kita-Kinder geht über das reine Vorlesen in einer kleinen Gruppe wie bei den Lesepaten hinaus. Der Sprachpate schenkt dem Kind während seines Besuchs seine gesamte Aufmerksamkeit. „Es ist eine Eins-zu-Eins-Betreuung, bei der im besten Fall starke Bindung entsteht“, sagt Bräutigam. Jede Tätigkeit, sei es Malen, Basteln, Turnen, Anziehen oder auch ein Spaziergang, wird mit Sprache unterlegt. „Dies nennt man alltagsintegrierte Sprachförderung“, sagt Bräutigam, „es geht darum, etwas zu erleben und so die Sprache und den Ausdruck zu fördern. Das können die Erzieherinnen und Erzieher im Alltag nur begrenzt leisten.“
Für Bräutigam ist ein gemeinsamer Spaziergang mit spannenden Entdeckungen in der Natur genau so wichtig für das Kind wie das Vorlesen einer Geschichte. „Die Kinder brauchen Anregungen“, sagt er, „dann fällt ihnen auch der Umgang mit der Sprache leichter.“ Es sei erschütternd, wie viele Kinder noch nie ein Kleeblatt gepflückt haben, nicht wüssten, wie ein Marienkäfer aussieht und was man alles mit Kastanien basteln kann. „bei all diesen Dingen kann man wunderbar miteinander reden und die Sprache so fördern“, sagt Bräutigam. Das Ziel ist es, dass die unterstützen Kinder in der Summe etwa zwei Stunden individuelle Unterstützung pro Woche bis zur Einschulung erhalten.
Bräutigam besucht zwei Kitas pro Woche. Insgesamt sind inzwischen 30 Sprachpatinnen und -paten in zehn Berliner Kindertagesstätten tätig, die meisten in Charlottenburg und Steglitz. „Der Bedarf ist aber deutlich größer und das Interesse der Kitas groß“, sagt Bräutigam. Aktuell versucht der Verein gerade Sprachpaten in Spandau zu finden. „Auch hier sind viele Kinder, die eine gezielte Sprachförderung brauchen“, sagt Bräutigam. „Viele von ihnen haben einen Migrationshintergrund, aber längst nicht alle.“
„Am liebsten wollen wir das Projekt auf ganz Berlin ausweiten, denn es betrifft Kinder aus der ganzen Stadt“, sagt Chebli. „Wir sind es den Kindern schuldig, ihr Aufstieg darf nicht vom Glück abhängen.“ Die Voraussetzung für eine Arbeit als Sprachpate sei nur, dass die Ehrenamtlichen die deutsche Sprache gut beherrschen und Freude daran haben, mit Kindern zusammenzuarbeiten. Außerdem brauche es Geduld und Zeit, denn meistens arbeitet ein Sprachpate mindestens an einem halben Wochentag in der Kita. Hier fokussieren sie sich auf die ausgewählten Kinder, aber sie beziehen auch andere Kinder ein und helfen bei Bedarf auch mal in der Kita aus. „Ob jemand geeignet ist, wird in persönlichen Interviews geklärt“, sagt Chebli, „und inzwischen haben wir Erfahrung. Wichtig ist, dass die Patinnen und Paten dabei bleiben. Nur so lässt sich Vertrauen zwischen ihnen und den Kindern aufbauen.“