Berlin. „Ich möchte mich erstmal dafür bedanken, dass ich hier heute doch noch den Vortrag halten kann, den ihr ja inzwischen wahrscheinlich alle kennt“, mit diesen Worten beginnt Marie-Luise Vollbrecht am Donnerstagabend ihren Geschlechtervortrag.
Der Großteil der Besucher scheint Vollbrecht sehr zu unterstützen. „Ich bin hier, weil ich es wichtig finde, wissenschaftliche Fakten sagen zu dürfen“ , sagt der Biologestudierende Jan Lütje. Er wäre auch bei der langen Nacht der Wissenschaften zu dem Vortrag gegangen und freue sich, dass er nun nachgeholt wurde. „Ich hätte aber gedacht, dass mehr Aktivisten kommen“, sagt Lütke. „ Aber vielleicht wurden sie abgeschreckt. Immerhin wurde ich jetzt schon zweimal nach meinem Namen gefragt und auch meine Tasche wurde kontrolliert.“ Abgesehen davon, sei das Sicherheitsaufgebot aber gering gewesen und es wäre nur ein Mannschaftwagen der Polizei dort, so Boris Nitzsche von der Humboldt-Universität. Zwischenrufe, Störungen, Banner oder Ähnliches gibt es keine.
Die Doktorandin Vollbrecht sollte die Präsentation ursprünglich während einer Langen Nacht der Wissenschaften Anfang Juli halten. Nach einem Aufruf zu Protesten sagte die Uni den Vortrag aber mit Hinweis auf Sicherheitsbedenken ab und wurde dafür heftig gescholten.
Vollbrecht hält den gleichen Vortrag wie im Internet
Kritiker werfen der Biologin eine feindselige Haltung gegen Transsexuelle vor. Vollbrechts zentrale These ist, es gebe beim Menschen nur zwei Geschlechter und diese würden jeweils bis zum Lebensende beibehalten. Auch einige Naturwissenschaftler argumentieren, diese Sicht sei vereinfachend.
Vollbrecht hält genau den gleichen Vortrag, wie im Internet. Anschließend kommt sie mit den Worten „Ich traue mich fast gar nicht, noch was zum Gendern zu sagen“ zu dem brisanten Aspekt des Vortrages. Sie erklärt, dass es einen großen Unterschied zwischen dem Gendern und den biologischen Geschelchgen gäbe: „Biologische Geschlechter gibt es halt nur zwei. Ein männliches und ein weibliches und dazwischen ist nichts.“ Das Gendern hingehen sei ein gesellschaftlich-soziales Thema und das könne man natürlich auf einer ganz anderen Ebene diskutieren.
Fragen möchte die Votragende allerdings nicht vor Ort beantworten. Sie sagt aber, sie sei um 19:30 auf YouTube online, „um zu rekapitulieren, was in den letzten Wochen passiert ist“.
Zur Podiumsdiskussion werde sie nicht gehen. Das habe verschiedene Gründe. Unter anderem ist sie der Meinung, dass es dabei nicht um Biologie gehen werde und ihre Person sowie ihre Biologie außerhalb der Universität irrelevant seien.
"Auch der Inhalt des Vortrages ist strittig"
Einige Zuschauer haben offensichtlich Verständnis, doch andere sind völlig aufgebracht. „Das ist keine Wissenschaft. In der Wissenschaft kann ich ja mich nicht hinstellen und angeblich die Wahrheit verkünden, aber dann keine Fragen oder Kritik zulassen“ , beschwert sich Gabriele Metzler, die Geschichtsprofessorin an der HU ist. Einige Studentinnen der Universität teilen diese Meinung und geraten nach dem Vortrag in eine Debatte mit anderen Zuschauern. „Dem Vortrag fehlen einfach wichtige wissenschaftliche Aspekte und auch der Inhalt des Vortrages ist strittig“, meint Johanna, die am Institut für Biologie arbeitet und keine Lust habe, sich weiter rum zu streiten.
Warum ein abgesagter Vortrag so viel Wirbel ausgelöst hat, was Wissenschaftsfreiheit eigentlich ist, und ob sie an Universitäten eingehalten wird, darum ging es anschließend bei der Podiumsdiskussion zwischen verschiedensten Persönlichkeiten nach dem Vortrag von Vollbrecht. „Wir wollen hier miteinander ein Gespräch führen, nicht gegeneinander“ betont der Moderator Jan-Martin Wiarda.
Podiumsdiskussion: Hat die Universität richtig gehandelt?
In einer ersten Diskussionsrunde geht es vor allem um die Frage, ob die Humboldt-Uni richtig gehandelt hat und inwiefern die Wissenschaftsfreiheit gefährdet wurde. „Die Hochschulen sind die Orte der Wissenschaft und der Debatte. Und diese Orte müssen geschützt werden“, sagt Bettina Stark Watzinger, die Bundesministerin für Bildung und Forschung. Professor Doktor Peter Frensch, der Präsident der Humboldt-Universität, erläutert daraufhin mehrfach, dass der Vortrag nicht abgesagt, sondern lediglich verschoben worden sei. „Und wir wissen inzwischen einzuschätzen, wann etwas zu gefährlich ist“, rechtfertigt er die Verschiebung des Vortrages.
„Doch was ist überhaupt Wissenschaft?“ Mit dieser Frage startet Professor Doktor Kerstin Palm die nächste Diskussionsrunde. Sie erläutert, dass es verschiedene wissenschaftliche Methoden gebe und bezüglich Vollbrechts Vortrag erst einmal geklärt werden müsse, an welchen „intersubjektiven, überprüfbaren Methoden und Standards“ man sich orientiere. Des Weiteren sagt Palm, dass es in keiner Wissenschaft die absolute Wahrheit gebe und dass das auch nicht so rüberkommen darf, wie es bei Vollbrecht der Fall gewesen sei.
Sie bezeichnet den Vortrag als „Grundkurs Biologie“, aber es sei keiner, der 2022 im Biologiebuch so geschrieben werden würde. Applaus und Gelächter auf der einen, Stille auf der anderen Seite, folgen auf Aussagen wie diese. Das Publikum scheint sehr gespalten zu sein. Zwischenrufe wie „Menschen sind keine Pilze!“, als Reaktion auf die Erklärung eines Pilzes, bei dem es verschiedenste Geschlechterformen gibt, erlauben sich einige Besucher trotz Aufforderung, sich zurückzuhalten. Auch hämisches Gelächter, großer Applaus und vereinzelte Rufe bleiben nicht aus.
Über ein Internetportal können alle Zuschauer Fragen stellen. Die mit den meisten Likes werden dann in der Debatte besprochen Zwischendurch haben außerdem einige Freiwillige aus dem Publikum die Möglichkeit, selbst an der Diskussion teilzunehmen. Gerade die Meinungen und Aussagen dieser Zuschauer könnten unterschiedlicher nicht sein. Während ein Zuschauer die Frage stellt, wieso es denn überhaupt transfeindlich sei, an nur zwei Geschlechter zu glauben, wirft ein anderer Vollbrecht „rechtsextreme und transgenderfeindliche Aussagen“ vor.
In einer Abschlussreflexion sind sich alle einig, dass die Debatte gezeigt hat, wie wichtig es ist, fächerübergreifend zu diskutieren und fachlich zu bleiben, statt sich anzuschreien. „Die Kontroverse zu führen“, das hab man heute gelernt. French bezeichnet es außerdem als „Chance“ für eine weiterführende Debatte, und auch der Moderator bedankt sich bei allen Beteiligten und den Zuschauern, die sich zu einem sehr großen Teil sehr ordnungsgemäß verhalten hätten. Heiner Schulze vom Schwulen Museum kritisiert allerdings, dass nicht auf die Strukturen der Wissenschaft und den Konformitätsdruck, dem alle ausgesetzt wären, eingegangen wurde und bezeichnet die Wissenschaft als „extrem prekär“.
Auch einige Gäste fanden die Debatte eher enttäuschend. Konstantin, der an der HU studiert, findet es schade, dass „die ganze Zeit nur über die Wissenschaftsfreiheit, nicht aber über das Gendern und die Geschlechter debattiert wurde.