Leitartikel

Der Wahrheit verpflichtet

| Lesedauer: 7 Minuten

In Berlin werden Journalisten auch als „Lügenpresse“ beschimpft. Das Gegenteil ist der Fall. Ein Beitrag zum Tag der Pressefreiheit.

Berlin. Haben Sie sich schon daran gewöhnt? Oder fällt es Ihnen im Alltag, im TV-Krimi oder auch bei der Diskussion mit Bekannten noch auf? Das Wort von der „Lügenpresse“? Wie häufig wird es benutzt, wie häufig werden Journalisten als diejenigen dargestellt, die die Wahrheit verdrehen, die wichtige Informationen verschweigen, die korrupt oder zumindest von den Politikern beeinflussbar und nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Mich graust es da regelmäßig, denn dieses öffentliche Bild von Journalistinnen und Journalisten und von deren täglichen Arbeit ist häufig so schlecht und weicht so sehr ab von meinem eigenen Alltag und dem meiner Kolleginnen und Kollegen. Deshalb ist es gut, dass wir heute den Tag der Pressefreiheit begehen. Am 3. Mai können wir darauf aufmerksam machen, worum es geht: um die Meinungs- und Pressefreiheit, die untrennbar zu einer Demokratie dazugehört, die zur Stabilität der Demokratie und zum Erhalt unseres Wertesystems beiträgt. Ohne Presse- und Meinungsvielfalt kann keine Demokratie überleben.

Angesichts des russischen Angriffskrieges in der Ukraine und dem System von Wladimir Putin erleben wir gerade wieder sehr deutlich, was Presse- und Meinungsfreiheit bedeutet. In Russland gibt es sie so nicht, schon seit Jahren nicht. Aber es gibt sie auch nicht in der Türkei, wo doch viele von uns so gern Urlaub machen. Es gibt sie nicht in China und auch nicht mehr in Hongkong, wo die Meinungs- und Pressefreiheit in den vergangenen Monaten systematisch bekämpft, ja unterdrückt und vernichtet wurde. Aber auch in Europa ist nicht alles Gold, was glänzt.

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Nicht nur in Sonntagsreden wird die Freiheit verteidigt

Und in Deutschland? In Berlin? In Deutschland ist die Meinungs- und Pressefreiheit ein hohes Gut, vom Grundgesetz geschützt und vom Bundesverfassungsgericht immer wieder bestätigt. Die Pressefreiheit, sie wird von den Politikerinnen und Politikern zum Glück nicht nur in Sonntagsreden geschätzt und verteidigt. Aber eben auch nicht von allen. Deutlich wurde das besonders während der Flüchtlingskrise im Jahr 2015, als die sogenannte Pegida-Bewegung gegen die Aufnahme von Migranten immer mehr Zulauf erhielt, von „Lügenpresse“ sprach und Journalisten, die deren Demonstrationen begleiteten, bedrohte. Die AfD, die von der Angst vor Migranten politisch profitierte, übernahm diese Sichtweise sofort, für deren Politiker gehört „Lügenpresse“ zum Standardvokabular. Journalisten werden als Feinde wahrgenommen, entsprechend ist der Umgang mit ihnen.

Mit der Corona-Krise, die seit Anfang 2020 das Leben von uns allen so einschneidend verändert hat, gab es die nächste große gesellschaftliche Herausforderung, auch mit Blick auf die Meinungs- und Pressefreiheit. Lang geglaubte Wahrheiten wurden umgestoßen, Politiker trafen Entscheidungen, die kaum einer für möglich gehalten hätte. Berlin begab sich wie der Rest der Republik in den Lockdown, Geschäfte und Gaststätten blieben über Wochen geschlossen, Kinder mussten zu Hause unterrichtet werden. Wegen eines Virus. Für eine solche Pandemie gab es keine Blaupause – allen sogenannten Pandemie- und Katastrophenpläne zum Trotz. Dies stellte nicht nur die ganze Gesellschaft und die Politiker vor große Herausforderungen, sondern auch uns Journalisten, die wir darüber berichten und vor allem die politischen Entscheidungen und deren Konsequenzen bewerten mussten. „Lügenpresse“ schallte es den Berichterstattern wieder entgegen, wenn die sogenannten Querdenker sich in Berlin zu ihren Aufmärschen trafen und gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung demonstrierten. Auch vor den Türen von Verlagshäusern und Redaktionen standen diese Demonstranten. Für sie ist die Pressefreiheit kein hohes Gut, sie wollten und wollen ihre Sicht auf die Dinge durchsetzen. Andere Meinungen, die gelten nicht viel, die will man gar nicht erst hören, die werden als Lügen abgetan. Nur die eigene Meinung zählt – und das ist dann Ideologie, die sich hinter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit verbirgt.

Wer die Presse- und Meinungsfreiheit verteidigt, der muss viel aushalten und viel aushalten können. Es fängt mit vermeintlich banalen Dingen an. Anders als in anderen Ländern ist es bei uns üblich, dass Interviews den Gesprächspartner zur Autorisierung vorgelegt werden. Erst nach der sogenannten Freigabe kann das Interview dann online oder in der Zeitung publiziert werden. Der Satz „Es gilt das gesprochene Wort“, der gilt bei Live-Interviews oder auch in angelsächsischen Ländern, nicht aber in Berlin. Und die Zahl der Gesprächspartner, die an dem Interview dann noch Änderungswünsche haben oder die eine klare Formulierung mit Angst vor dem Wähler dann doch wieder abschwächen, die ist gar nicht so klein. Die Grenze für die Journalisten ist dann überschritten, wenn im Originaltext zu viel geändert wird, wenn aus einem Interview eine PR-Mitteilung wird. Pressefreiheit, die muss man aushalten können.

Ein täglicher Kampf mit den Pressestellen

Wer als Journalist in dieser Stadt arbeitet, der hat noch mit anderen Widrigkeiten zu kämpfen. Mit Pressestellen, die alle Anfragen nur noch als E-Mail, also schriftlich, haben wollen. Mit Pressesprechern, die sich nicht in der Lage sehen, eine aktuelle Anfrage in einer oder in zwei Stunden zu beantworten, sondern mindestens einen Tag oder gern auch mal mehrere Tage in Anspruch nehmen. Mit Politik- oder Wirtschaftsvertretern, die entschieden haben, nur noch mit bestimmten Medien zu reden, weil ihnen die Berichterstattung der anderen zu kritisch war. Mit Behördenvertretern, die denken, hartnäckige Journalisten loszuwerden, wenn sie die Anfragen einfach schleppend, auch mal gar nicht oder erst nach gerichtlichen Entscheidungen beantworten. Mit Senatsverwaltungen, die nur ausgewählte Journalisten mit zu einem Termin nehmen, weil man ja einen Pool für Text und Foto gebildet habe, den die anderen Medien zu akzeptieren hätten. Mit Veranstaltern, die Fotografen gar nicht zum aktuellen Konzert zulassen, sondern nur ihr selbst ausgewähltes Material zur Verfügung stellen. Oder mit Agenturen von Schauspielern oder anderen wichtigen Persönlichkeiten, die selbst entscheiden wollen, welches Foto den Weg in die Online- oder Print-Ausgabe findet.

Das alles sind Widrigkeiten im Vergleich zur dramatischen Lage in Russland, China oder in der Türkei. Aber auch das sind Angriffe auf die Pressefreiheit. Denn die Freiheit der Presse lebt davon, dass sich die Journalisten ein eigenes Bild machen können. Sie lebt von der Vielfalt der Eindrücke, von der Stärke der Analysen. Und das gilt für alle Journalisten: Wir sind der Wahrheit verpflichtet. Jeden Tag.