Berlin. In der Grundlagenforschung sind sie oft Weltspitze, die Berliner Wissenschaftler aus dem weiten Feld, das die Experten „Life Science“ nennen. Aber wenn es um Patente und Produkte geht, wird Deutschland immer noch viel zu oft von den USA und anderen Standorten abgehängt. Um aus der leistungsfähigen Biomedizin mehr wirtschaftliches Kapital zu schlagen, die Fortschritte schneller zu den Patienten zu bringen und eine Technologie des 21. Jahrhunderts auch in Produktionsstätten hierzulande anzuwenden, haben sich die Universitätsklinik Charité und der Pharma-Konzern Bayer zusammengetan. Mit Unterstützung des Berliner Senats planen sie eine bisher in Europa einmalige Kooperation: Ein Zentrum für Gen- und Zelltherapie, das eine ähnliche Anziehungs- und Innovationskraft entfalten soll wie sie in Berlins Digital-Ökonomie bereits erreicht wurde.
Giffey: „Wir wollen Wissen in Wirtschaftskraft umwandeln“
Am Dienstag unterzeichneten die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD), Charité-Chef Heyo Kroemer und Bayers Pharma-Vorstand Stefan Oelrich im Säulensaal des Roten Rathauses ein „Memorandum of Understanding“, um die Idee in feste Strukturen zu überführen. „Wir wollen Forschung überführen in medizinische Produkte, Wissen in Wirtschaftskraft umwandeln“, sagte Giffey. Sie kündigte an, Bundeskanzler Olaf Scholz per Brief um Unterstützung zu bitten.
Denn wie die Chancen sind die Investitionskosten groß. Kroemer sprach von einem dreistelligen Millionenbetrag und der Gründung einer gemeinsamen gemeinnützigen GmbH als Träger des Zentrums, von dem m,an sich Fortschritte vor allem im Kampf gegen Krebs, seltene, durch Gen-Defekte ausgelöste Krankheiten, aber auch Volksleiden wie Parkinson oder Alzheimer erhofft.
Vorbild Boston: Dort gibt es gemeinsame Strukturen von Forschung und Konzernen
In der Charité habe man genau analysiert, wie Boston das Thema angeht. Die Stadt an der amerikanischen Ostküste mit ihren Eliteuniversitäten ist weltweit führend in der Biomedizin und ihrer Anwendung. Zwar gibt es auch in Berlin immer wieder einzelne Kooperationsprojekte zwischen Wissenschaftlerin und Industrie. Aber als Erfolgsfaktor in den USA habe man die „langfristige strukturelle Interaktion“ ausgemacht, sagte Kroemer. Eine solche will man nun auch in Berlin mit einer gemeinsamen gemeinnützigen GmbH schaffen.
Christopher Baum, Charité-Vorstand und Chef des für Translation, also den Transfer von Forschungsergebnisse ans Krankenbett gegründeten „Berlin Institute of Health“ (BIH) sagte, in dem neuen Zentrum kämen „zwei Welten zusammen, die so bisher nicht gemeinsam agiert haben“. Fachlich gesehen seien die „Heilsversprechen“ einer personalisierten Medizin inzwischen „reifer“ geworden, so der Molekularbiologe. Die Sicherheit für Patienten sei gewachsen, um weitere Fortschritte zu erzielen brauche man eine „kritische Masse“, Die gebe es in Berlin, wo 40 bis 50 Projekte zum Beispiel in der Krebsmedizin weit fortgeschritten seien.
Es geht um die Heilung von Krebs und vielen selteneren Krankheiten
Der Fachmann erklärte die Methoden, um die die es geht. In der Zelltherapie würden etwa Zellen „umerzogen“, um sie widerstandsfähig gegen den Krebs zu machen. Viele seltene Krankheiten, an denen in der Summe bis zu vier Millionen Menschen in Deutschland litten, seien auf Gen-Defekte zurückzuführen. Korrigierende Eingriffe in die Körperzellen seien aber möglich. Das gilt vor allem bei solchen Krankheiten, für die nur einige Tausend der „10.000 Milliarden Körperzellen“ verantwortlich seien, aus denen ein menschlicher Körper besteht. Die Verfahren, die Gene und Zellen jedes Patienten zu analysieren, seien teuer, kam Baum auf Vorbehalte gegen die sehr aufwendige personalisierte Medizin zu sprechen: „Es gibt einen großen Druck, Dinge günstiger zu gestalten“. Das Gesundheitssystem dürfe mit den neuen Methoden nicht überlastet werden. Deshalb würden in dem neuen Zentrum auch ethische und gesellschaftliche Fragen der neuen Technologien in die Forschung einbezogen.
Neues Gebäude soll auf dem Bayer-Gelände in Mitte nahe der Charité entstehen
Immerhin gibt es schon einen Bauplatz. Der geplante Inkubator, wo in Forschungsgruppen und Start-Ups vielleicht mal 300 Spezialisten arbeiten sollen sowie ein Netzwerkbüro für weltweite Kontakte sollen auf einem noch als Parkplatz genutzten Areal der Bayer AG am Nordhafen entstehen, etwa auf halbem Weg zwischen den Charité-Campi Mitte und Virchow. „Die zentrale Lage erhöht die Attraktivität“, sagte Bayer-Vorstand Oelrich. Kein anderer Standort könne solch ein Projekt in der Innenstadt ansiedeln.
Für den Konzern geht es darum, sich einen Vorsprung bei der Anwendung der in der Fachwelt als äußerst chancenreich geltenden Gen- und Zelltherapien zu sichern. Wirtschaftliche Relevanz dieser Methoden wird für die 30-er Jahre erwartet. Bayer-Experten sollen nicht direkt in den Forschungsgruppen arbeiten, aber bei Bedarf hinzugezogen werden und wegen der räumlichen Nähe überhaupt auf dem Laufenden Sein, was dort geschieht. Wobei während der Unterzeichnung der Absichtserklärung ausdrücklich die Offenheit des Vorhabens betont wurde. Auch andere Akteure sollen sich beteiligen dürfen. „Hofgfentlich ist der dreistellige Millionenbetrag erst der Anfang“, sagte Wirtschaftssenator Stephan Schwarz (parteilos, für SPD).