Berlin. Elena Budinstein (44) lebt seit rund 25 Jahren in Berlin. Aufgewachsen ist sie in St. Petersburg. In Berlin und Moskau berät sie mit ihrer PR-Agentur große Marken dabei, sich auf den russischsprachigen Märkten zu präsentieren. Zudem ist sie Trainerin für interkulturelle Kompetenzen und Lehrbeauftragte für internationale Verhandlungen und interkulturelles Management. Sie ist verheiratet mit dem Musiker Igor Budinstein, das Paar hat drei Töchter.
Frau Budinstein, Sie beraten internationale Mode- und Lifestyle-Marken in Russland. Existiert dieses Geschäftsfeld überhaupt noch?
Elena Budinstein: Es ist schwierig, und für mich derzeit auch gedanklich einfach sehr weit weg. Ich glaube, so ziemlich alle russischsprachigen Berliner helfen zurzeit bei der Aufnahme der Flüchtlinge oder Menschen in der Ukraine. Viele haben dort Freunde und Verwandte - mein Mann und ich auch. Wir sind alle schockiert über diesen Krieg, der durch nichts zu rechtfertigen ist.
Wie erleben Sie die Situation in Berlin? Werden Sie angefeindet?
Nein, zum Glück bisher nicht. Unsere jüngste Tochter geht in den Musikkindergarten, der ohnehin sehr international ist. Den russischsprachigen Kindern wurde gesagt, sie müssten keine Angst haben, sie sollten sich glücklich schätzen, dass sie Russisch sprechen können. Das fand ich gut. Ich selbst habe viel Unterstützung bekommen, auch vom Verband der deutschen Unternehmerinnen (VDU), in dem ich aktiv bin. Was mir allerdings Sorgen macht, sind diese pauschalen Boykott-Aufrufe gegen alles, was irgendwie „russisch“ klingt.
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Hat es nicht Sinn, mit einem Boykott ein Zeichen zu setzen?
Wenn ein Bäcker seinen Russischen Zupfkuchen nicht mehr „russisch“ nennen will, ist das in mehrerlei Hinsicht der falsche Weg. Zum einen gibt es in Russland gar keinen Zupfkuchen (lacht), das ist eine deutsche Erfindung. Aber der ganze Gedanke führt in eine falsche Richtung. Zum einen, weil ein Boykott russischer Lebensmittel jetzt auch die vielen Ukrainer in Deutschland träfe. Typisch „russische“ Lebensmittel wie Buchweizen, Pirogen oder Borschtsch werden hüben wie drüben gegessen. Dazu kommt, dass die russische und die ukrainische Kultur und die Menschen seit jeher eng verbunden sind. Viele Ukrainer haben Verwandtschaft in Russland und umgekehrt. In der russischsprachigen Community in Berlin wissen wir oft selbst nicht, wer woher kommt. Russen, Ukrainer, Weißrussen, es spielt auch keine Rolle für die zwischenmenschlichen Beziehungen.
Lassen sich russische und ukrainische Kultur überhaupt trennen?
Nein, gerade dort führt es teilweise ins Absurde. Ich habe zuletzt die Diskussionen miterlebt, dass man ausschließlich ukrainische Komponisten spielen soll oder die Musiker sollen unbedingt aus der Ukraine stammen. Noch absurder war die Diskussion um ein literarisches Werk von Nikolai Gogol. Man muss die historischen Hintergründe in der Musik und Literatur schon sehr genau kennen, um das zu beurteilen. Es gab Streit um die Figur des „Taras Bulba“ aus Gogols gleichnamiger Erzählung: Ist er nun ein russischer Kosake oder doch ein ukrainischer Held? Aber wichtiger finde ich die Frage, was für ein Zeichen mit einem Boykott von allem russischen tatsächlich gesetzt wird. Der russische Präsident behauptet seit Jahren, dass Russen überall in der Welt unerwünscht seien und würden nicht respektiert. Ein Boykott von Russen im Ausland unterstützt seine Propaganda und liefert ihm zusätzliche Argumente. Das finde ich kontraproduktiv. Und ich sehe darin eine neue Art der Diskriminierung.
Wie kann man dem begegnen?
Indem wir alle lernen, Vorurteile abzubauen. Wir müssen darüber reden. Jeder hat Stereotype, wir brauchen sie, um unsere Umwelt gewissermaßen zu sortieren, sonst wäre das Leben zu komplex. Das Ziel muss aber sein, Stereotype nicht zu Vorurteilen mutieren zu lassen - und das passiert extrem schnell. Ich sehe jetzt die Tendenzen dazu. Erst sind es Vorurteile, dann werden daraus Feindseligkeiten, dann negative Handlungen. Grundsätzlich finde ich ja, dass Interkulturelle Kompetenz als Fach bereits in die Kita gehört. Wir können nicht früh genug damit anfangen, gerade auch jetzt wieder, wenn viele ukrainische Kinder in die Kitas und Schulen aufgenommen werden.
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Halten Sie auch die politischen Sanktionen gegen Russland für falsch?
Nein. Ich finde, man hätte Sanktionen viel früher und ganz gezielt gegen die Menschen verhängen sollen, die Putin umgeben, gegen seine Propagandamaschinerie, die Oligarchen, die hinter ihm stehen. Jetzt führen die aktuellen westlichen Sanktionen russische Menschen in die Armut, ebenso wie die vielen Auflagen von russischer Seite. Sie treffen ganz normale Menschen. Ich kenne dort viele, gerade junge Leute, die jahrelang hart gearbeitet haben, um im Ausland zu studieren. Sie beherrschen das Deutsche perfekt, hatten große Pläne. Oder die russischen Musikstudenten, die von vielen Musik Wettbewerben ausgeschlossen werden. Das ist ungerecht. Der Hass gegen Russen würde den Ukrainern auch nicht helfen.
Erleben Sie, dass Wladimir Putins Propaganda bei den Menschen ankommt, dass sie den Krieg richtig finden?
Bisher war es für mich so, dass mein gesamtes Umfeld selbstverständlich gegen den Krieg war, sowohl hier in Deutschland als auch in Russland. Heute habe ich aber zum ersten Mal erlebt, dass gute Freunde aus St. Petersburg die Parolen von Putin wiederholen. Ich bin entsetzt, es wühlt mich wirklich auf. Ich will den Kontakt nicht abbrechen und überlege gerade, was ich tun kann. „Call Russia“ ist eine interessante Initiative: Jeder hier lebender Russe soll einen Bekannten oder Verwandten in Russland anrufen und die Person über die Ereignisse aufklären. Das ist eine gute Idee, aber erfahrungsgemäß nicht leicht umsetzbar. Ich bleibe trotzdem dran.
Sie sind unter anderem Expertin in Sachen Kommunikation. Wie reagiert man in einer solchen Situation?
Es zeigt mir zunächst, wie stark diese Propagandamaschine vor Ort tatsächlich wirkt. Die Menschen sind verblendet - selbst gut ausgebildete wie meine Freunde. Die nicht verblendet sind, sitzen leider mittlerweile im Gefängnis, zusammen mit Abertausenden politischen Gefangenen. Oder sie fürchten sich, wissen um die Konsequenzen, wenn sie protestieren oder offen ihre Meinung sagen, und versuchen auszureisen. Das ist etwas, das Menschen in einer demokratischen Gesellschaft sich nur schwer vorstellen können: Welche Konsequenzen es für Russen hat, auf der Straße zu protestieren. Ich höre von Freunden, dass sie es nicht mal fünf Minuten schaffen, mit einem Plakat auf der Straße zu stehen. Selbst wenn da nicht mal etwas gegen Putin draufsteht, sondern einfach nur „Kein Krieg“. Sie werden sofort mitgenommen.
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Was passiert nach der Festnahme?
Meistens wird den Betroffenen das Handy weggenommen und sie werden für 15 Tage eingesperrt. Natürlich ohne anwaltliche Hilfe. Sie werden eingeschüchtert, unter Druck gesetzt, damit sie nicht wieder auf die Straße gehen. In den sozialen Medien sehe ich jetzt viel weniger Posts von Freunden. Ich weiß nicht, ob es am Algorithmus liegt oder daran, dass die Menschen vorsichtiger werden.
Was werden Sie Ihren Freunden sagen, die Putins Krieg befürworten?
Sie sind mir wichtig, mir ist es nicht egal, was sie denken. Ich will auch nicht einfach die Beziehung abbrechen. Das ist gegen meine Philosophie. Ich denke, wir müssen umgekehrt jetzt erst recht in Kontakt bleiben. Ich will versuchen, ihnen die Augen zu öffnen. Zu sagen: Ich widerspreche dir jetzt nicht, aber bitte schaue auch auf andere Nachrichten und schicke konkrete Infos rüber.
Gibt es die denn noch?
Es gibt zum Beispiel die Online-Zeitung „Meduza“, die seit langem aus dem Exil in Lettland publiziert. In Russland gilt sie als „ausländischer Agent“. Sie ist auch auf dem Messengerdienst Telegram sehr stark präsent. Dort gab es zum Beispiel neulich eine interessante Reportage über junge Leute, die es mit Argumenten und den richtigen Fragen geschafft haben, dass ihre Eltern und Großeltern die Dinge realistischer sehen und sich besser informieren.
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Vor acht Jahren, während der Annexion der Krim durch Russland, haben wir schon einmal für einen Artikel gesprochen. Damals sagten Sie, das Wichtigste sei, dass die internationale Politik mit Putin im Gespräch bleibe.
Ja. Damals hatte ich dafür geworben, auch die russische Position zumindest zu kennen. Und, ja, im Gespräch zu bleiben. Jetzt haben wir diese Gespräche nicht mehr. Eine These zu diesem Scheitern der Kommunikation ist ja, dass es immer noch viel zu viele alte Männer in der Politik an der Macht sind. Sie stammen aus einem anderen Jahrhundert, sie sind realitätsfern. So lange nicht endlich mehr Frauen aufs politische Parkett kommen, lässt sich die These zumindest nicht widerlegen, dass es mit mehr Frauen an der Macht weniger Krieg geben würde.
Was machen Frauen anders?
Sie würden versuchen, im Gespräch zu bleiben. So, wie zum Beispiel Kanzlerin Angela Merkel damals ja immer versucht hat.