Viele Prominente wurden in unserem Krankenhaus behandelt, sie wurden unter einem Decknamen eingewiesen, damit niemand wusste, um wen es sich dabei handelte. Überhaupt hatten wir einen guten Modus gefunden, mit solchen Patienten umzugehen. Hier kann ich aus Gründen der ärztlichen Schweigepflicht nur von den Patienten erzählen, die nicht mehr am Leben sind, und der prominenteste unter ihnen dürfte Boris Jelzin gewesen sein.
Als Boris Jelzin zu mir kam, war er schon operiert worden, in Moskau, zu diesem Zeitpunkt war er noch russischer Präsident. Als solcher hatte er ein nicht sehr gesundes Leben geführt, und sicher war er eng dem Alkohol verbunden gewesen, vor allem dem Wodka. Da musste er sich einer Koronaroperation unterziehen. Damals bin ich von der russischen Botschaft in Berlin gefragt worden, was ich denn für Jelzin tun könne. Ich meinte, für einen solchen Eingriff müsste er nach Berlin kommen, aber es war klar, dass er als aktiver Präsident schlecht nach Deutschland reisen konnte, um sich hier operieren zu lassen.
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Der Fünfundsechzigjährige erhielt dann in der Chasow-Herzklinik im November 1996 mehrere Bypässe, operiert hatte ihn der Tatar Renat Akchurin, ein sehr guter Chirurg, er hatte einige Jahre in Houston unter Michael DeBakey gearbeitet. Zu dieser Operation hatte man auch den schon fast neunzigjährigen DeBakey geholt, wohl mit dem Gedanken, sollte etwas schiefgehen, dann konnte man sagen, man hätte ja den Top-Spezialisten der Herzchirurgie dabeigehabt. DeBakey hatte natürlich nicht an der Operation aktiv teilgenommen, es war eine politische Absicherung. Wenn ein so bedeutender Mann wie der Kremlchef operiert wird und es passiert etwas, ist das eine Katastrophe. Als klar war, dass die OP einen erfolgreichen Abschluss hatte, stiegen auf dem russischen Wertpapieremarkt die Aktien.
„Boris Jelzin. Er ist auch schon hier.“
Jahre nach diesem Eingriff bekam ich wieder einen Anruf über die russische Botschaft, ich sollte mich darauf einstellen, dass ein besonderer Patient aus Moskau zu mir in die Herzklinik kommen würde. „Den sollen Sie untersuchen. Sehen Sie einfach, was Sie für ihn tun können.“ „Und wer ist der besondere Patient?“ Diese Formulierung hatte ich ja schon mehrmals gehört, aber dieses Mal wollte ich keine Ungewissheit, ich wollte erfahren, um wen es sich handelte. Immerhin sollte die Untersuchung in unserem Herzzentrum stattfinden, nicht irgendwo.
Die Antwort erfolgte prompt: „Boris Jelzin. Er ist auch schon hier. Kommen Sie doch bitte in die Botschaft.“
Umgehend fuhr ich zur russischen Botschaft, begleitet wurde ich von Doktor Guna Tetere aus unserer Klinik, die aus Lettland stammte und fließend Russisch sprach. Und dann haben wir Boris Jelzin zum ersten Mal gesehen. Er war schlank, nicht mehr so aufgedunsen, wie ich ihn aus dem Fernsehen her kannte. Er kam dann zu uns ins Haus für eine umfassende Untersuchung. Der Kardiologe machte eine Katheteruntersuchung, und es zeigte sich dabei, dass das OP-Ergebnis von 1996 ganz ordentlich war, dass man nichts weiter aktiv unternehmen musste.
Nach diesem ersten Besuch erschien er zweimal im Jahr. Beim zweiten oder dritten Aufenthalt sagte Jelzin: „Ich möchte diese Stammzellen haben. Ich habe von diesem Professor Matthias Schauer in Düsseldorf gehört, der die Meinung vertritt, Stammzellen würden die Herzfunktionen verbessern. Unbedingt möchte ich diese Stammzellen haben.“ „Das ist noch eine neue Sache“, gab ich zu bedenken. „Bislang halte ich nicht viel davon. Man weiß noch nicht so recht, was es für Konsequenzen hat.“
Jelzin brachte seinen ganzen Hofstaat mit
So entgegenkommend Jelzin sich sonst verhalten hatte, jetzt zeigte sich sein wirkliches Naturell: „Ich will jetzt diese Stammzellen haben. Und wenn Sie mir die nicht geben wollen, dann lassen Sie den Schauer aus Düsseldorf einfliegen, damit er mir die injiziert.“
Also gut, dachte ich, du kriegst deine Stammzellen, obwohl ich beileibe nicht überzeugt davon war.
Ich entnahm ihm Knochenmark vom Beckenkamm, und in der Kinderklinik wurden die Stammzellen isoliert. Es war ein kleiner Eingriff, anschließend injizierte ein Kardiologe die isolierten Stammzellen in die Koronararterien und in die Bypässe. Damit war Jelzins Wunsch erfüllt. Wider Erwarten verbesserte sich die Funktion der linken Herzkammer, die durch vorangegangene Herzinfarkte deutlich eingeschränkt war, in kürzester Zeit um mindestens zehn Prozent. Er war so erfreut darüber, dass er danach immer wieder zu uns kam, wobei er seinen ganzen Hofstaat mitbrachte, seine Frau Naina und seine Töchter Tatjana und Jelena. Auch die erhielten die Untersuchungen, die sie sich wünschten, wir vermittelten sie an entsprechende Ärzte.
Die Jelzin-Familie fühlte sich bei uns wohl, das hatte auch damit zu tun, dass viele im Herzzentrum Russisch sprachen. Zum Beispiel Petra Schalck-Golodkowski, die Tochter von Alexander Schalck-Golodkowski, dem gewieften Strippenzieher und Devisenbeschaffer der DDR; sie sprach bestes Russisch, weil sie in Moskau zur Schule gegangen war. Menschen wie sie muss man für Patienten wie Jelzin haben, sie war bei uns Krankenschwester.
Meilensteine: Die Chronik des Deutschen Herzzentrums Berlin
Jelzins Leibwächter sprachen nachts im Krankenhaus kräftig dem Wodka zu
Und immer wenn sich Jelzin ankündigte, reservierte ich sie für ihn, denn wenn er kam, erklärte er sofort: „Ich will die Petra !“ Sie hatte sich sehr gut mit ihm verstanden und ihn bei Laune gehalten, bei einem typischen Machtmenschen wie ihm war das nicht immer ganz einfach. Alle in seiner Umgebung hatten seinen Anordnungen zu folgen. Doch im Persönlichen war er ein umgänglicher Mensch, ich jedenfalls kam bestens mit ihm zurecht. Als Arzt muss man die Fähigkeit entwickeln, sich auf jeden Menschen, jedes spezielle Naturell einzustellen. (...)
Begleitet wurde die Jelzin-Familie übrigens von einem Tross von Leibwächtern, die nachts im Krankenhaus kräftig dem Wodka zusprachen. Wir hatten einen ganzen Flügel für sie und die Jelzins freigemacht, aber dabei hatte sich gezeigt, dass wir auf solche Art von Patienten nicht richtig vorbereitet waren. So richteten wir einen Sicherheitsflügel ein, mit doppelten Türen und eigenen Räumen für Bodyguards und Angehörige.
Ich hatte immer Bedenken gehabt, zumal Jelzin am Anfang in einem Zimmer neben einer Aufzugstür des Seitenflügels wohnte. Wir mussten den Aufzug sperren, sodass keiner raus und rein konnte, möglichst sollte so auch die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. Und als Jelzin das erste Mal entlassen wurde, fuhren wir nun mit diesem Aufzug runter ins Erdgeschoss, aber draußen standen tatsächlich mehrere russische Fernsehteams und wollten ihre Fragen loswerden: „Warum, Herr Jelzin, sind Sie ausgerechnet nach Berlin gekommen? Hätten russische Ärzte diese Behandlung nicht auch machen können?“ Als diese Fragen ebenso an mich gerichtet wurden, war klar, dass ich mich auch in dieser Sache vorsichtig und diplomatisch verhalten musste. Ich sagte: „Natürlich gibt es in Russland ganz hervorragende Ärzte, und die hätten das sicher gekonnt, aber Herr Jelzin hat das nun mal so entschieden.“