Berlin. Siegfried Brockmann weist den Asphalt entlang. „Das ist jetzt hier die Autofahrspur.“ Auf dem Boden des Zentralen Festplatzes hat der Leiter der Unfallforschung der Versicherer Striche aufgesprüht und Hütchen gesetzt. Sie sollen die Fahrbahn an einer Kreuzung darstellen. Die provisorische Anordnung hat einen ernsten Hintergrund. Auf Berlins Straßen sterben viel zu viele Radfahrer. Bereits zwölf kamen in diesem Jahr bei Unfällen ums Leben, sagt der Landesverband des Allgemeinen deutschen Fahrradclubs (ADFC Berlin). Immer wieder sind es dabei rechtsabbiegende Lkw, die Radfahrer an Kreuzungen überrollen. Angesichts dieser Zahlen läuft seit längerem die Debatte, wie der Verkehr auf den Straßen der Hauptstadt sicherer werden kann. Zentral ist die Frage nach der richtigen Kreuzung.
In Fachdiskussionen fällt dabei immer wieder eine Ideallösung: die "geschützte Kreuzung" nach niederländischem Modell. Dabei sind die Radfurten ein Stück nach rechts in die Nebenstraße verschoben. Zugleich sorgen Vorstreckungen in die Fahrbahn dafür, dass Kraftfahrzeuge beim Rechtsabbiegen in stumpferem Winkel auf die Radfahrer treffen. Dadurch soll die Sichtbarkeit von Radfahrern erhöht werden – und Unfälle ausbleiben. In den Niederlanden ist dieses Design weit verbreitet. Auch andere Städte und Länder rund um den Globus adaptieren das Konzept. Ob das Modell hält, was es verspricht, will nun auch Unfallforscher Brockmann auf dem Zentralen Festplatz herausfinden.
Gefahr bestehe vor allem, wenn Radfahrer schnell angefahren kämen, während der Lkw-Fahrer bereits abbiege. „Da ist es eminent wichtig, dass er sie durch das Fenster sieht oder der Abbiegeassistent sie wahrnimmt“, so der Unfallforscher. Nimmt der Fahrer selbst die Personen auf dem Rad nicht rechtzeitig wahr, kann gerade der elektronische Abbiegeassistent Leben retten. Die Rufe nach einer sofortigen Pflicht für diese Systeme, die EU-weit für Neumodelle erst ab 2022 gilt, wurde zuletzt immer lauter. Bislang entscheidet jedoch jeder Spediteur selbst, ob er darauf setzt.
„Aus meiner Sicht kann man die Kreuzung so nicht bauen“
Zum Test lässt Brockmann einen Lkw anfahren, ausgestattet mit dem ersten ab Werk verbauten Abbiegeassistent von Daimler. Rechts neben dem Lkw macht sich auch Brockmann auf seinem Rad auf den Weg. Bis zum Aufeinandertreffen der beiden passiert jedoch: nichts. Zwar ist der Radfahrer auf dem Monitor des Assistenzsystems vor der Kreuzung zu sehen, das piepende Warnsignal hingegen bleibt aus. Aus dem Führerhaus selbst sieht der Kraftfahrer den auf dem Rad herannahenden Brockmann nur mit Mühe.
„Für mich ist der Worstcase eingetreten“, urteilt Brockmann danach harsch. Das Problem sei gerade, dass der Radfahrer von der Kreuzung weggeführt werde. „In dem Moment, wo ich mehrere Meter von der Kreuzung entfernt fahre, nimmt mich der Abbiegeassistent nicht mehr wahr.“ Zugleich hätte sich auch die direkte Sicht auf erst herannahende Radfahrer nicht verbessert. „Damit es Sicherheit gäbe, müsste der Radweg noch weiter von der Kreuzung wegverschwenkt werden“, so der Unfallforscher. Das aber sei aus Platzgründen oft nicht möglich. Alternativ den Abbiegeassistenten neu zu programmieren, um auch weiter rechts befindliche Personen zu erfassen, hält Brockmann nicht für sinnvoll. Das System sei bewusst so eingestellt, um Fehlwarnungen zu verhindern. "Wenn Sie wissen, dass der eh an jeder Kreuzung drei mal piepst, achten sie nicht mehr drauf", sagt der Unfallforscher. Gerade im wuseligen Berliner Stadtverkehr gebe es sonst zu viele falsche Meldungen. Deswegen müssten die Fehlwarnungen gegen null gehen. Sein Fazit: „Aus meiner Sicht kann man die Kreuzung so nicht bauen.“
Noch existiert in Berlin kein Knotenpunkt nach diesem Konzept. Jedoch plant die Senatsverkehrsverwaltung den Bau von zwei Modellkreuzungen in den nächsten Jahren. Welche dies sein werden, sei noch in der Prüfung, teilte eine Sprecherin der Senatsverkehrsverwaltung mit. Das niederländische Kreuzungsdesign könne dabei nicht eins zu eins auf Berlin übertragen werden. „Wir werden das niederländische Modell daher an die Berliner Gegebenheiten anpassen und dabei auch alle bisherigen Erfahrungen und Tests mit einbeziehen“, erklärte sie. Der Umbau der Kreuzungen geschehe "modelhaft". Anschließend würde zunächst das Ergebnis evaluiert. Dabei spielten insbesondere Sicherheitsfragen eine Rolle.
Keine Zweifel am Schutz, den das niederländische Kreuzungsmodell biete, hat Burkhard Stork, Präsident des ADFC. „Auf gar keinen Fall ist das das Aus für die niederländische Kreuzung.“ In den Niederlanden gebe es mehrere tausend Knotenpunkte nach diesem Modell. Dort seien die Ergebnisse gut. Stork wundert sich über den Versuchsaufbau der Unfallforschung am Zentralen Festplatz. „Warum machen wir den Test auf der Grünen Wiese? Warum gucken wir nicht, was an Unfällen auf niederländischen Kreuzungen passiert ist, oder machen den Test dort?“ Dies sei aufschlussreicher, als die Hütchen-Konstruktion. Zudem sei der Abstand der Radfurt zur Kreuzung zu klein gewesen. „Die Niederlande schreiben mindestens fünf Meter vor. Die wurden offensichtlich nicht eingehalten.“ Bei diesem Setting, so der ADFC-Präsident, habe der Test nicht funktionieren können.
Dass der Abbiegeassistent nicht gewarnt habe, sei ebenfalls kein Problem. „Wenn man den Radweg fünf Meter von der Kreuzung absetzt, dann braucht man keinen Assistenten.“ Stork sieht auf deutschen Straßen daher weiter dringend Handlungsbedarf. „Wir brauchen ein sicheres Kreuzungsdesign.“ Überall auf der Welt würden Erprobungen durchgeführt. Es sei höchste Zeit, dass dies auch in der Hauptstadt passiere.