Berlin. In Berlin ist der Beratungsbedarf zum Thema Sekten deutlich gestiegen. Gab es 2016 mit 366 Kontakten im Schnitt rund eine Anfrage pro Tag, haben sich 2018 und 2019 jeweils fast 600 Menschen an die Sekteninfo Berlin gewandt, teilte Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) am Freitag mit.
Dabei gehe es weniger um Großorganisationen wie zum Beispiel Scientology. Viel häufiger fragten Ratsuchende nach kleinen Gruppierungen. Darunter seien zum Beispiel bibeltreue Evangelikale, die koreanische Neuoffenbarungsreligion Shinchonji, zweifelhafte Lebenshilfe-Angebote, horrend teure Coachings oder so genannte Wunderheiler. Im Unterschied zu früher sei heute jede dritte Gruppe bei Anfragen unbekannt, sagte Fachberaterin Jennifer Neumann.
Der Name Sekte trifft es nicht ganz. Beraterinnen wie Neumann sprechen bei der großen Bandbreite unterschiedlichster Gruppen lieber von "Angeboten am Lebenshilfemarkt". Manches sei harmlos, anderes bringe richtig Probleme mit sich, sagte Scheeres. So gab es im vergangenen Jahr mit 99 Anfragen die meisten Anliegen zu Evangelikalen. Dabei geht es oft um bibeltreue evangelische Christen. In Sachen Religionsfreiheit habe der Staat nichts vorzuschreiben, betonte die Senatorin. Wenn solche Gruppen aber freiheitlich-demokratische Werte ablehnten, sei die Grenze überschritten.
Das betreffe zum Beispiel die Ablehnung von Homosexualität, festgelegte Rollenbilder für Frauen und die Gefährdung kranker Kinder durch das Ignorieren der Schulmedizin. "Glauben kann man nicht bewerten", ergänzte Fachberaterin Neumann. Wenn eine religiöse Gruppe aber Auflagen für die Lebensführung bis hin zum Sexualverhalten erteile, Kinder vom Bio-Unterricht fernhalte oder Homosexuellen Dämonenaustreibung oder Geistheilung nahelege, gehe das zu weit. Das gelte auch für das Ablehnen wissenschaftlicher Erkenntnisse. Jennifer Neumann kennt Fälle, in denen Gruppen behaupteten, ein verlorenes Bein werde wieder nachwachsen.
An die Berliner Sekteninfo wenden sich Menschen allen Alters und mit ganz unterschiedlichem Bildungshintergrund. Es sind nicht nur Betroffene und Aussteiger darunter, sondern auch besorgte Angehörige und Freunde. Denn häufig brechen Menschen, die einer dubiosen Gruppierung anhängen, ihre bisherigen Sozialkontakte ab. Für die tyische Vorgehensweise so genannter Sekten hat die Senatsverwaltung eine Checkliste herausgegeben. Punkt 3: "Das Weltbild der Gruppe ist verblüffend einfach und erklärt jedes Problem."
81 Anfragen gab es 2019 in Berlin allein zur koreanischen Neuoffenbarungsreligion Shinchonji. Das heißt übersetzt "Neuer Himmel und neue Erde". Dahinter steht Gründer Man-Hee Lee, Jahrgang 1931. Unter dem Deckmantel von zum Beispiel Food Festivals werbe die Gruppe mit Hilfe von Tarnorganisationen in Berlin wohl vor allem unter Studierenden. "Unter dem Vorspiegeln von Freundschaft werden dann persönliche Daten gesammelt", berichtete Neumann. Zeitaufwendige Bibelkurse setzen Anhänger nach Recherchen des Zentrums Ökumene unter enormen Missions- und Zeitdruck - bis hin zu Studien- und Berufsabbrüchen.
Die übrigen Anfragen verteilten sich auf Angebote zur Lebenshilfe und Esoterik. Darüber hinaus gibt es den alternativen Gesundheitsmarkt mit "Fernheilungen" oder "Lichtübertragungen". Anfällig dafür seien oft sehr schwer kranke Menschen, deren Leiden die Schulmedizin nicht lindern kann, sagte Scheeres.
Doch auch Scientology ist nicht ganz vom Radar verschwunden. Werbungsversuchen an Berliner Unis setzte die Beratungsstelle in Absprache mit den Hochschulleitungen Aufklärungskampagnen entgegen. Dennoch gebe es immer wieder Menschen, die den Lockrufen nicht widerstehen könnten. Dabei gehe es heute auch um Wohnungen in Berlin.
Seit 2008 hieß die Beratungsstelle Leitstelle für Sektenfragen im Land Berlin. Mit dem neuen Namen Sekteninfo Berlin sollen Verwechslungen mit bundesweiten Angeboten ausgeschlossen werden.