Es gibt Menschen, deren Fröhlichkeit einfach anzustecken scheint. Ruth Ur ist ohne Zweifel einer von ihnen. Wer von ihr angestrahlt wird, kann kaum anders, als das Lächeln zu erwidern. Mit ihrer offenen Art dürfte es ihr kaum schwerfallen, Menschen für sich und ihre Sache zu gewinnen. Spricht sie aber über ihren neuen Job, wird die 45-Jährige ernst – zwangsläufig.
Seit Juli ist sie Direktorin der deutschen Dependance der internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem mit Sitz in Charlottenburg und für die Arbeit der israelischen Institution in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein verantwortlich.
„Meine Aufgaben ist, Yad Vashem zu unterstützen und es in den deutschsprachigen Ländern bekannter und relevanter zu machen“, sagt die gebürtige Britin. Sie wolle erreichen, dass der kleine, aber sehr aktive Freundeskreis wächst und mehr Profil bekommt. „Jede Person in Deutschland soll wissen, wofür Yad Vashem steht.“ Daneben gelte es, neue Partnerschaften zu schließen. So hätten bereits fünf große deutsche Unternehmen jeweils eine Million Euro gespendet. „Das ist einzigartig, und ich möchte die Beziehung mit diesen fünf Sponsoren, aber auch mit anderen, vertiefen.“ Einer davon war der Fußballverein Borussia Dortmund. Ur will mit den Fans gegen Antisemitismus arbeiten.
Diplomatin in Israel, Indien, Türkei und Ägypten
Aktuell entwickle sie noch ihre Strategien. „Die wichtigste Frage dabei ist, wie das, was Yad Vashem entwickelt hat, weitervermittelt werden kann – Erkenntnisse darüber, was geschah, warum es geschah, und was getan werden kann, damit es nie wieder passiert.“ Ihr Ziel sei es, dass Bewusstsein der Menschen zu schärfen; ihr Wunsch, eine Verbindung zwischen damals, heute und der Zukunft zu schaffen. Und ihre Aufgabe, dass sich Menschen weiterhin mit dem Holocaust beschäftigen. Denn die Geschichte sei heute relevanter als vielleicht angenommen. Und Zeitzeugen, die für den emotionalen Zugang entscheidend seien, würden immer weniger. „Wir müssen neue Wege finden, die Geschichte zu erzählen.“ So gebe es zum Beispiel zum 75. Jahrestag der Auschwitzbefreiung im Januar eine Ausstellung mit 75 Porträts von Überlebenden des Fotografen Martin Schoeller in Essen.
Ur wurde 1974 in London geboren. Dort und in Cambridge studierte sie Kunstgeschichte und Philosophie. Nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin ging sie 1999 zurück und arbeitete unter anderem als Kuratorin des britischen Pavillons auf der Biennale 2002 in Venedig. Im gleichen Jahr wurde sie vom British Council als Kulturattaché mit Diplomatenstatus nach Israel geschickt, wo sie vier Jahre während der Zeit der Zweiten Intifada lebte. Damals sei der Ehrgeiz in ihr geweckt worden, eine Brücke sein zu wollen. „Ich war Übersetzerin zwischen vielen Kulturen und Sprachen“, sagt Ur, die neben Englisch und Deutsch auch Hebräisch, Türkisch, Französisch sowie etwas Spanisch und Italienisch beherrscht. Jetzt mache sie eigentlich das Gleiche, nur dass es um die Vergangenheit gehe.
Nach Israel folgten Stationen in der Türkei, Nordeuropa und mehreren arabischen Ländern. Immer wieder pendelte Ur dabei zwischen Politik und Kultur hin und her. So sei sie in Ägypten eine Art „Troubleshooter“ gewesen – jemand, der Konflikte ausräumt. Nach dem Umsturz 2011 habe sie im Auftrag der britischen Regierung Anknüpfungspunkte zu den neuen Kräften im Land gesucht. Auf ihrer letzten Station in Indien wirkte sie als Direktorin des „UK/India Year of Culture 2017“ und konnte die Queen überzeugen, erstmals ein Lichtkunstwerk auf den Buckingham Palace strahlen zu lassen.
Kurz darauf schied Ur aus dem Diplomatendienst aus und verlegte ihren Lebensmittelpunkt vollständig nach Berlin, wo sie bereits vorher mit ihrem deutschen Ehemann und ihren drei Kindern (heute 13, zehn und vier Jahre alt) lebte. Das, was sie bislang meist für kürzere Zeit in verschiedenen Ländern tat, habe sie in einem Land vertieft tun wollen. Dazu gründete sie eine Kunstagentur namens „urKultur“.
Seitdem befasse sie sich auch stärker mit ihrer eigenen Geschichte, sagt Ur. Ihre Eltern stammen aus Israel. Dorthin waren ihre Großeltern in den 1910er- und 30er-Jahren aus Osteuropa emigriert. Der Holocaust sei in ihrer Familie nie Thema gewesen. Fragen nach zurückgebliebenen Verwandten habe etwa ihre Großmutter meist nur mit „Er ist weg“ beantwortet. „Sie konnten die Worte nicht finden. Das war ganz typisch in dieser Situation, dass sie nicht darüber sprechen wollten.“ Im vergangenen Jahr sei sie erstmals nach Litauen gereist und habe so die eigene Beziehung zur ganzen Geschichte gefunden.
„Ich habe eine Verbindung zu dieser Geschichte, nicht nur als Jüdin oder Enkelin, sondern jetzt auch als Deutsche“, sagt Ur. Denn seit diesem Jahr besitzt sie neben der israelischen und britischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie wolle nicht Gast oder Gesendete, sondern Teil der Gesellschaft sein. „Und ich hatte schon immer eine Faszination für Deutschland und die deutsch-jüdische Kultur“, sagt Ur, die sich bereits im Studium mit deutscher Kunst des 20. Jahrhundert beschäftigte.
In Berlin besuche sie in ihrer spärlichen Freizeit vor allem Galerien, aber am liebsten den Wannsee. „Dort ist es wahnsinnig schön, er hat aber auch eine unglaublich schwierige Geschichte.“ Badespaß, die Villa des 1935 verstorbenen jüdischen Malers Max Liebermann und das Haus, in dem 1942 die sogenannte „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen wurde – all das findet sich seit vergangenem November auch auf einem Wandmosaik im Bahnhof Wannsee. Das Kunstwerk stammt von Christoph Niemann und wurde von Ruth Ur kuratiert.
Ur fühlt sich in Deutschland sehr sicher
In ihrer neuen Heimat fühle sie sich insgesamt sehr sicher, sagt Ur. Einzig während des antisemitischen Terroranschlags von Halle sei das für einen Moment anders gewesen. „Was mich am meisten verunsichert ist, dass man vergisst.“ Den erstarkenden Antisemitismus müsse man ernst nehmen. „Es hat mit Bildung zu tun, und hier müssen wir ansetzen.“ Entsprechend sei ihre Priorität, mehr in Schulen zu gehen und mit Lehrern zu arbeiten. Es gelte zu vermitteln, dass Deutschland von Vielfalt nur profitieren kann.
Yad Vashem
Yad Vashem (Hebräisch für „Denkmal und Name“) wurde 1953 in Jerusalem als Behörde des israelischen Staates gegründet. Als weltweit bedeutendste Holocaust-Gedenkstätte erinnert sie an die nationalsozialistische Judenvernichtung und bewahrt die Opfer vor dem Vergessen. Ihre Biografien und die Umstände ihres Todes werden wissenschaftlich erforscht, dokumentiert und publiziert. Yad Vashem zählt jährlich zwei Millionen Besucher.