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Liebe auf den zweiten Blick: Drei Geschichten unserer Leser

| Lesedauer: 15 Minuten
Heike Avsar
Die Berlinerin  Dietlind Lüthi-Weyers ist 75, der US-Veteran Carlo Manocci 87 Jahre alt. Auf den  Schwarzweiß-Fotos sind sie als junge Leute um 1970 in Berlin zu sehen.

Die Berlinerin Dietlind Lüthi-Weyers ist 75, der US-Veteran Carlo Manocci 87 Jahre alt. Auf den Schwarzweiß-Fotos sind sie als junge Leute um 1970 in Berlin zu sehen.

Foto: Maurizio Gambarini / FUNKE FotoServices

Lässt sich im Alter noch einmal ein neues Glück zu zweit finden? Das wollten wir von unseren Lesern wissen. Drei Geschichten.

Wenn nach vielen Jahren der Ehepartner stirbt, droht oft die Einsamkeit. Doch auch im Alter ist ein neues Glück möglich, hat unser Kolumnist Dieter Puhl kürzlich geschrieben und von der späten Liebe seiner verwitweten Mutter berichtet. Er wollte wissen: Haben Sie auch eine Geschichte über das Alter, die Einsamkeit und das Glück einer späten Liebe? Die drei schönsten Einsendungen dokumentieren wir auf dieser Seite.

Dietlind und Carlo: Wiedersehen nach 50 Jahren

„1969 lernte ich beim Tanz den amerikanischen Offizier Carlo kennen“, schreibt die Berlinerin Dietlind Lüthi-Weyers. „Jeden Morgen rief er mich auf meiner Arbeit an mit den Worten: ,Good morning sunshine!’ Eineinhalb Jahre hatten wir eine schöne Zeit, bis er in den Vietnamkrieg musste. Carlo schickte mir Kassetten und viele Briefe. Wir wollten uns wiedertreffen. Da er gebürtiger Italiener ist, besuchte ich mit meinen Eltern und meinem Sohn seine Mutter.

Doch als Carlo aus Vietnam zurückkehrte, trennten sich aus verschiedenen Gründen unsere Wege. Carlo heiratete eine Kollegin vom Militär und ich einen Schweizer, mit dem ich dann aus Berlin in die Schweiz auswanderte. Carlo und ich bliebe aber in Verbindung. Wir schrieben ab und zu mal einen Brief oder telefonierten. Es gab auch einen kurzen Besuch in der Schweiz. Beide wurden wir geschieden und heirateten jeweils noch einmal.

Dann kehrte ich aus der Schweiz zurück, weil meine Mutter einen Schlaganfall hatte. Achteinhalb Jahre habe ich sie dann rund um die Uhr gepflegt. Weil ich aus einem Nicht-EU-Land kam, musste ich im Seniorenstift abends arbeiten, um versichert zu sein. Dort lernte ich meinen späteren Ehemann kennen, den ich ebenfalls bis zuletzt pflegte. Er starb im Januar 2017. Ich mailte Carlo davon. Er tröstete mich und schrieb mir, dass er selbst seit Jahren seine schwer kranke Frau pflegte. Im Oktober 2017 starb auch sie. Im April 2018 schrieb ich ihm, dass ich ihn noch einmal im Leben wiedersehen möchte. Er war gerade zu Besuch in Florenz bei Freunden, und wir verabredeten uns dort. Er blieb dort noch fünf Tage, bis er nach Oregon in die USA zurück flog.

Vor diesem Treffen hatten wir beide etwas Angst, wie wir uns wohl verändert hätten. Aber ich habe ihn sofort erkannt. Die Vertrautheit kam zurück. Seitdem haben wir uns mehrfach getroffen. Es gab viele Flüge, nach Portland (Oregon), Hawaii, Spanien, Italien, Alaska ... und nach Berlin. Er mit 87 Jahren, ich mit 75! Carlo ist der Meinung, dass wir noch alle Zeit nutzen sollen, die uns noch bleibt. Da er Honorarkonsul war, kennt er sehr viel von der Welt und möchte mir noch vieles zeigen … Dietlind Lüthi-Weyers

Erna und Kurt: Er munterte sie mit seinem Lachen auf

„Erna war schon 87 Jahre alt, als sie in das Altersheim kam, in die „Villa“. Eine sehr große, schlanke Dame im Kostüm, mit weißer Bluse und Perlenkette, die ohne Betreuung lebte.“ So beginnt die Berlinerin Janine Rosenberger die Liebesgeschichte über Erna und Kurt. „Sie saß gerne am großen Gemeinschaftstisch und nahm die Mahlzeiten mit den anderen Bewohnern ein. Sie aß stets wenig, aber gerne den Nachtisch, den sie Dessert nannte. Bei Gesprächen, Spielen oder auch beim gemeinsamen Singen hielt sie sich zurück.

Und überhaupt konnte man den Eindruck gewinnen, dass sie glaubte, hoffte, irgendwann demnächst wieder zu Hause in ihrer großen Dahlemer Wohnung zu leben. So selbstständig war sie nicht mehr. Oft schaute sie traurig, manchmal lief ein Tränchen über ihre Wange.

Eines Tages setzte sich Kurt neben sie. Kurt, schon seit mehreren Jahren Bewohner im Heim, 73 Jahre alt, eben über 1,60 Meter groß. Über seinem runden Bauch spannten die Hosenträger leicht. Er trug gerne bunte Hemden, zog dazu im Winter eine graue Strickjacke über, mit Lederflicken an den Ellenbogen. Er aß sehr gerne und gerne viel. Er war er Bäcker gewesen in Berlin. Mit seinem ergrauten, wuscheligen Haarkranz um die Glatze, seinem häufigen Lachen und seiner direkten Art, auf Menschen zuzugehen, wirkte er wie ein älter gewordener Junge. Kurt saß also eines Tages neben Erna – und nahm ihre Hand. Er lächelte sie an: „Nee, Erna, is’ doch nich’ so schlümm, wa?“ Und Erna lächelte und streichelte mit ihrer anderen Hand Kurts Kinn.

Von diesem Tag an waren Erna und Kurt ein Liebespaar. Nach dem Mittagessen verschwanden die beiden in Ernas Zimmer. Zum Nachmittagskaffee waren sie wieder am Tisch. Es wurde zum Ritual. Alle Schwestern wussten davon, akzeptierten es und wahrten die Privatsphäre so gut wie eben möglich. Was die beiden über eineinhalb Stunden machten, wusste keiner wirklich. Bis zu dem Tag, als eine neue Schwester, erst drei Tage im Dienst, die frisch gewaschene, trockene Wäsche der Erna ins Zimmer legen wollte. Zwar hatte sie, wie bei allen anderen Bewohnern im Haus auch, angeklopft. Da sie aber nichts hörte, ging sie sogleich hinein. Dort saßen Erna und Kurt nebeneinander auf dem gemachten Bett, auf der zusammengelegten Bettdecke, lächelnd, Wange an Wange, Händchen haltend, angezogen, schweigend, zufrieden… und wirkten sehr glücklich.

Fortan betrat um diese Tageszeit niemand mehr Ernas Zimmer – etwas über vier Jahre lang. So lange dauerte Ernas und Kurts kleines Liebesglück. Eines Morgens wachte Erna nicht mehr auf. Sie wurde 91 Jahre alt, Kurt war 77. Sein Lachen verschwand, irgendwann kam gelegentlich ein kleines Lächeln wieder, wenn ihm etwas Freude machte, eine nette Begrüßung zum Beispiel oder ein leckerer Nachtisch. Er lebte noch drei Jahre, bis zu seinem Tod im Heim in der „Villa“. Verliebt hat er sich nicht mehr. Janine Rosenberger

Friedrich und Charlotte: Begegnung im Fahrstuhl

„Vor zehn Jahren habe ich für meinen Onkel, der sich im Alter von 84 Jahren nach dem Tod meiner Tante ganz unverhofft neu verliebte, und für seine neue Lebensgefährtin, die Geschichte ihrer Liebe aufgeschrieben, weil sie mich sehr berührte“, schreibt Heike Avsar. „Den beiden alten Menschen waren noch über zehn gemeinsame Jahre vergönnt, eine sehr schöne Zeit, bis mein Onkel mit fast 95 Jahren vor vier Jahren verstarb. Seine Liebe, sagte er oft zu mir, sei sein Motor, so alt geworden zu sein.“ Weil die Liebesgeschichte sehr lang ist, dokumentiere wir sie in gekürzter Fassung:

„Im Schein der flackernden Kerze betrachtete er ihr Gesicht, das ihn von dem gerahmten Schwarzweißfoto ansah: Ihr nach hinten gekämmtes welliges, weißes Haar, die hellen Augen ein wenig tieferliegend unter den geschwungenen Augenbrauen. Seine Finger fuhren die Konturen ihres Gesichtes entlang, ein wenig zitternd, und er schaute auf den Ringfinger seiner rechten Hand, wo sich bis vor einigen Tagen der Ring befunden hatte, den er seit über fünfzig Jahren getragen und nun abgelegt hatte.

Er hatte diese Entscheidung getroffen, weil seit einigen Monaten sein sorgsam geplantes Leben ein wenig aus den Fugen geraten war, was er nun wieder mit einem Lächeln der Zufriedenheit registrierte, wenn er an den Grund dieser Veränderung dachte.

In seinen fast 84 Lebensjahren war er immer ein äußerst korrekter Mensch gewesen. Als akribisch bezeichnete man ihn, weil sein Leben bestimmt war durch genaue Zeitpläne, die es einzuhalten galt. Als Elisa vor drei Jahren nur wenige Tage nach der Goldenen Hochzeit einem Krebsleiden erlag, war er allein geblieben in dem nun für ihn viel zu groß gewordenen Haus, und schließlich in ein Seniorenwohnhaus gezogen, um der plötzlichen Einsamkeit zu entfliehen. Er arrangierte sich schnell und klaglos, mit der Einstellung, Vergangenem nicht nachzutrauern, wenn die Zukunft unabänderlich war. Er plante die Tage, zu Mittag aß er nun immer in einer Kantine eines unweit gelegenen Seniorenheims, trat einem Seniorenclub bei, besuchte Theateraufführungen, Militär- oder Klassikkonzerte. Zu besonderen Anlässen besuchte er Elisas Grab, hielt mit ihr stille Zwiesprache.

Er hatte Elisa auch von ihr erzählt, weil auch nach ihrem Tod kein Geheimnis zwischen ihnen stehen sollte. Das erste Mal hatte er sie im Fahrstuhl seines Wohnhauses wahrgenommen. Er war innerlich ein wenig zusammengezuckt, als sie ihn ansah. Ihre Augen waren von einem intensiven hellen Blau, die denen Elisas erschreckend ähnelten. Selbst ihre Gesichtszüge und das weiße Haar erinnerten an Elisa. Gemeinsam verließen sie im Erdgeschoss den Fahrstuhl und gingen beide auf die Briefkästen zu. Sie wünschte ihm einen schönen Tag und verließ das Haus. Für einen Moment schaute er ihr irritiert nach.

Am nächsten Morgen, als er den Briefkasten leerte, befand sich auch die Clubzeitung darunter. Jemand hatte mit kleiner sauberer Schrift etwas auf den Rand der Titelseite notiert:

„Wir sind uns gestern im Fahrstuhl begegnet. Es würde mich freuen, wenn Sie mich anriefen.“

Sein Herz schlug schneller. Am Abend zuvor, als er bereits zu Bett gegangen war, hatte er sie vor sich gesehen und eine plötzliche Sehnsucht hatte von ihm Besitz ergriffen. Ob er sich nach Elisa sehnte oder nach dieser fremden Frau, die ihr so ähnelte, wusste er nicht einmal zu sagen. Es hatte für ihn nie eine andere gegeben als Elisa.

Er wollte nichts überstürzen. Unter den Hausbewohnern gab es ohnehin mehr Frauen als Männer. Ohne dass er darauf nun besonders stolz war, hatten ihm einige dieser alleinstehenden älteren Damen mal vage, mal direkt, zu verstehen gegeben, dass sie an ihm als Mann interessiert waren. Er hatte diese Avancen, wie er es nannte, höflich zu übergehen gewusst. Am Vormittag fasste er sich ein Herz und wählte ihre Nummer. Mehr als zwei Stunden telefonierten sie miteinander, so dass er darüber sogar das Mittagessen vergaß. Er ließ den alltäglichen Mittagsschlaf ausfallen, weil er spürte, dass er nicht zur Ruhe kommen würde, denn er hatte sie gefragt, ob es unschicklich sei, wenn er sie bäte, um 19 Uhr zu ihm zu kommen, um das nette Gespräch fortzusetzen. Sie hatte gelacht und ihm versichert, dass sie gern käme.

Das alles lag nun bereits sechs Monate zurück. Sechs Monate, in denen er und Charlotte sich näher gekommen waren – in einem Tempo, das ihn selbst erstaunte. Sein Sohn und auch die Schwiegertochter beklagten, dass er nun ein Leben auf der Überholspur lebte, es fehlte ihnen an Verständnis – wohl auch, weil sie die Mutter liebten und ihr Andenken in Gefahr sahen. Er sagte sich, dass sie sich daran gewöhnen würden. Er war alt genug, um zu wissen, was er tat. Warum verstanden sie nicht, dass auch er ein Recht darauf hatte, noch einmal glücklich zu sein? Er war nicht mehr allein, und über diesen Wendepunkt in seinem Leben war er dem Schicksal dankbar.

Man nahm das Frühstück gemeinsam bei ihm ein, weil die Sonne morgens ins Zimmer schien. Die Nachmittage dagegen wurden oft bei Charlotte verbracht, die nur zwei Etagen über ihm wohnte – auf der Westseite, wo es dann zu dieser Tageszeit hell und sonnig war.

Sie war wie er verwitwet, zehn Jahre jünger als er und Mutter zweier Söhne. Sie verwöhnte ihn, kochte, brachte mal frische Blumen, mal selbst gebackenen Kuchen mit. Gemeinsam tranken sie abends in seiner gemütlichen Wohnung ein Glas Rotwein, sie schloss die Augen und lauschte seinen Erzählungen.

Er fragte sie, warum sie sich ausgerechnet für ihn entschieden hatte. Ihre Antwort machte ihn verlegen: „Weil ich mich in deine Stimme und in deine Intelligenz verliebt habe. Auch wie du dich kleidest. So elegant.“ Er hatte bescheiden abgewinkt.

Charlotte wusste inzwischen, dass sie Elisa sehr ähnelte. Ihr Aussehen und ihre Art machten es ihm leicht, sie zu lieben. Sie verstand ihn und war keineswegs gekränkt. Wenn er von Elisa sprach, nahm sie seine Hand, und dann saßen sie einen Moment still beieinander. Auch die körperliche Nähe war eine neue Erfahrung für ihn. Mit Elisa war er nie Hand in Hand gegangen. Charlotte küsste ihn auf den Mund, wenn ihr danach war, und er erwiderte ihre Küsse. Zufrieden im Hier und Jetzt, weil das Leben lebenswerter war, wenn man es teilen konnte. Er plante weiterhin Reisen, Theater- und Konzertbesuche, die sie nun gemeinsam erlebten.

„Friedrich?“

Erschrocken sah er auf. Charlotte war gekommen, er hatte nicht gehört, wie sie die Tür aufschlossen hatte. Sie nahm Elisas Bild in die Hand und lächelte. Sie streichelte sein Gesicht und gab ihm einen Kuss. Er stellte das Bild zurück an seinen Platz auf der Kommode.

„Charlotte?“

„Ja?“

„Ich liebe dich, und ich wünschte, wir hätten noch viel Zeit.“