Der Auftritt war nicht bestellt. Als Franziska Giffey am U-Bahnhof Rudow den Bus für ihre Sommerreise besteigt, wartet eine Delegation des Neuköllner Ordnungsamtes, um der früheren Neuköllner Bürgermeisterin ihre Aufwartung zu machen. „Ich wusste nicht, dass sie kommen“, ruft die Bundesfamilienministerin überrascht aus und begrüßt die Mitarbeiter wie alte Bekannte. „Wenn man auf diese Leute hört, weiß man, was in der Politik nötig ist“, sagt die Ministerin.
Bemerkenswert gut gelaunt tritt die 41-Jährige ihre Tour durch Brandenburg, Sachsen und Thüringen an, wo demnächst für die SPD schwierige Landtagswahlen anstehen. Das ist selbst für eine Frohnatur wie Giffey nicht selbstverständlich.
Vorige Woche waren folgenschwere Entscheidungen bekannt geworden, die ihre bislang so steil verlaufene Polit-Karriere bremsen könnten. Wegen der Plagiatsvorwürfe gegen ihre Dissertation und des drohenden Verlustes des Doktortitels hatte sie auf eine Kandidatur um den SPD-Vorsitz verzichtet. Und sie hatte in Aussicht gestellt, ihr Ministeramt aufzugeben, sollte die Freie Universität ihr den 2010 erworbenen akademischen Titel entziehen.
Sie hat Lust auf solche Reisen, auf Treffen mit Menschen. 500 Außentermine hat sie in ihrer kurzen Amtszeit absolviert. „Wenn man das öfter macht, kriegt man auch einen Kompass dafür, was zu tun ist“, sagt die Ministerin. Immer wieder büxt sie aus, begrüßt Menschen auf der Straße oder plaudert lange mit Bürgern. „Oh, da haben wir uns schon wieder verquatscht“, sagt sie dann entschuldigend. Fast scheint es, als habe die klare persönliche Entscheidung eine Last von ihren Schultern genommen.
Es sei müßig, über ihre Dissertation zu diskutieren, findet die Politikerin, die vor einem guten Jahr aus der Neuköllner Kommunalpolitik auf die Bundesebene gesprungen war. Sie habe die Arbeit nach bestem Wissen angefertigt, die Professoren hätten sie angenommen. Sollten sie das heute anders bewerten, werde sie das akzeptieren. „Aber so lange arbeiten wir weiter“, hatte sie ihren erschrockenen Mitarbeitern gesagt. Man wisse ja nie, wie lange irgendetwas dauere.
Franziska Giffey könnte Spitzenkandidatin für das Rote Rathaus werden
In Berlins SPD gibt es nicht wenige, die einem Abschied Giffeys aus der Bundespolitik etwas Positives abgewinnen könnten. Sie wäre frei, um gegebenenfalls 2021 als Spitzenkandidatin das Rote Rathaus für die SPD zu verteidigen. Franziska Giffey selbst hält sich auch im vertraulichen Gespräch über einen möglichen Plan B absolut bedeckt. Nur in der Versenkung zu verschwinden, scheint für die 41-Jährige keine Option zu sein.
Schon kurz nach der Abfahrt wird deutlich, wie eng die gebürtige Brandenburgerin nach den ersten Monaten im Bundeskabinett immer noch mit Berlin verwurzelt ist, wo sie 16 Jahre für den Bezirk Neukölln gearbeitet hat. Sie wirbt für eine Verlängerung der U7 nach Schönefeld und zum BER. „Ein Hauptstadtflughafen braucht auch eine Hauptstadtanbindung“, sagt sie. Nur der Halbsatz, „das ist auch im Interesse der Bundesregierung“, verrät, dass dort nicht die Kommunal- oder Landespolitikerin spricht.
Am U-Bahnhof Rudow habe sie nach dem Mauerfall das erste Mal den Westen betreten, erzählt sie im Bus dem zwei Dutzend Journalisten, die sie begleiten. Ihre Eltern seien mit ihr als Elfjährige nach Schönefeld gefahren, wo die DDR-Bürger ihre Trabbis und Wartburgs abstellen sollten und dann mit BVG-Bussen nach Rudow gefahren wurden. Eine freundliche Dame schenkte „der kleinen Franzi“ in der U-Bahn zwei Mark. Bei Karstadt am Hermannplatz kaufte sie vom Begrüßungsgeld ein Radio. Aber der Fall der Mauer war nicht nur positiv für Familie Giffey. Beide Eltern wurden kurz darauf arbeitslos. Sie kenne die Verlusterfahrungen vieler Ostdeutscher, sagt Giffey. Bei allem Verständnis wirbt sie jedoch unermüdlich dafür, die Erfolge der vergangenen 30 Jahre zu sehen und stolz auf das Erreichte zu sein. „Die Jammer-Ossi-Nummer finde ich furchtbar.“
Giffey: „Wichtig ist nicht, woher du kommst, sondern was du sein willst“
Das Krankenhaus in Frankfurt/Oder, wo sie geboren wurde, ist inzwischen abgerissen. Ihr Gymnasium in Fürstenwalde musste mit der ungeliebten Konkurrenzschule fusionieren. Zu wenige Schüler gab es noch in der märkischen Kleinstadt. Diese Bemerkung führt sie gedanklich wieder nach Berlin und zu den fehlenden Schulplätzen in der Hauptstadt. Man dürfe Schulen nicht schließen, auch wenn es teuer sei, nicht ausgelastete Klassen zu betreiben. „In Neukölln haben wir keinen Schulplatzmangel, weil wir keine Schule geschlossen haben“, sagt Giffey und klingt kurz wie die Bildungsstadträtin, die sie von 2010 bis 2015 gewesen ist. Auch zur Integrationspolitik hat sie eine lebenspraktische Devise parat: „Wichtig ist nicht, woher du kommst, sondern was du sein willst.“
Beim ersten Stopp in Eisenhüttenstadt besichtigt sie das Zentrum, das in den 50er-Jahren im sozialistischen Zuckerbäckerstil für die Arbeiter des Stahlwerkes in den märkischen Sand gestellt wurde. Als ihr Bürgermeister Frank Balzer (SPD) erklärt, wie die seit Jahren stark schrumpfende Stadt versucht, die Einwohner aus den Plattenbauten der Peripherie im historische Zentrum zu konzentrieren, fragt sie nicht zuerst nach den Kosten oder den logistischen Problemen. „Wie reagieren die Menschen darauf?“, will die Familienministerin wissen.
Auch wegen solcher Reaktionen hätten viele Sozialdemokraten sie gerne an der Parteispitze gesehen. „Ich fände es kein Problem, wenn ihr der Doktortitel entzogen würde“, sagt Wolfgang Perske, Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung. Natürlich gibt es Klagen in der Industriestadt. Vor allem die schlechte Bahnanbindung nach Berlin sei ein Ärgernis. „Das ist der Punkt“, findet Giffey, „nicht abgehängt zu sein.“ Auch Berlin müsse daran ein Interesse haben, dass die Brandenburger Städte gut erreichbar seien. „Die Stadt muss in die Breite wachsen, nicht nur durch Verdichtung“, verrät sie ihre Gedanken zur Stadtentwicklung. Später verteilt sie in der Gaststätte „Aktivist“ Kartoffelsuppe an die Reporter.
Willkommensagentur für Rückkehrer: Für die Ministerin ein Riesenthema
Vorbei an den Tagebauen der Lausitz rollt der Bus dann weiter nach Finsterwalde, hart im Süden Brandenburgs. Einen Block von dem hübsch sanierten Marktplatz wirbt dort in einem Eckladen die Willkommensagentur um Rückkehrer. Für die Ministerin ein Riesenthema. Sie setzt darauf, dass die 30- bis 40-Jährigen, die die Welt kennengelernt haben, wieder in die Heimat ziehen und in der Lage sein werden, auch die Führungspositionen in Ostdeutschland zu besetzen. Denn „Ossis in Chefetagen“ gebe es weniger als Frauen in Dax-Vorständen. Finsterwalde wirbt mit hohem Freizeitwert und Glasfasernetzen, mit der die örtlichen Stadtwerke schnelleres Internet bieten könnten als in vielen Großstädten, wie der CDU-Bürgermeister Jörg Gampe berichtet. Mehr als 60 Rück- oder Neuzuwanderer habe man bei ihrem Weg in die Region schon begleitet, sagt der Leiter des Trägervereins Comeback Elbe-Elster, Sven Guntermann.
Die Lausitzerin Karla Fornoville kehrte mit ihrem belgischen Mann zurück und ist dabei, die alte DDR-Tradition der waschbaren Höschenwindel wieder zu beleben. Bei einem der letzten Textilunternehmen der Region lässt sie die Überhöschen fertigen, innen liegt ein herausnehmbares Vlies. Das sei ein Beitrag gegen den enormen Windelberg im Müll, sagt die Gründerin der Firma Foxies Family GmbH. Aus Giffeys Sicht sind es solche positiven Beispiele, die den Osten stolz machen sollten.
Wenn sie sich etwas wünschen dürften von der Politik, wären die Menschen in Finsterwalde für einheitliche Bildungsstandards in Deutschland. Der Bürgermeister würde das Kindergeld abschaffen, um die Mittel in Schulen und Kitas zu stecken. Rückkehrerin Stefanie Auras-Lehmann, die ihre Erfahrungen in einem Buch namens „Heeme“ (Lausitzer Dialekt für „zu Hause) verarbeitet hat, wünscht sich niedrige und in Deutschland einheitliche Kita-Gebühren. „Da rennen Sie bei mir offene Türen ein“, ruft Giffey. Als Bundesministerin fördere sie über ihr „Gute-Kita-Gesetz“ die Länder, damit sie in Qualität investieren und auch die Eltern bei den Gebühren entlasteten. Zuvor hatte sie darauf hingewiesen, dass es eben die SPD gewesen sei, die in Berlin Horte und Kitas kostenfrei gemacht und das Gratis-Schulessen eingeführt habe. Das alles gehe in einem Stadtstaat, wenn man regiere.
Das Problem der begrenzten Kompetenzen der unterschiedlichen staatlichen Ebenen holt Giffey auch am Abend beim Bürgerdialog im sächsischen Riesa ein. Im Mehrgenerationenhaus Gröba klagen Erzieherinnen und Sozialarbeiterinnen über die viele Bürokratie in den Projektanträgen des Familienministeriums. Sie sagt zu, die Formulare zu vereinfachen. Aber als Bund könne man eben auch nicht alles machen. Land und Kommune müssten mitziehen. Das gelte für all die Alltagsthemen, die nach ihrer Wahrnehmung die Politik bestimmen sollten. Pflege, öffentlicher Nahverkehr, Mieten, Kita-Plätze. Und familienfreundliche Arbeitsplätze.
„Die Menschen wollen sich anerkannt fühlen“
Solche gibt es im nahen Nünchritz bei Wacker Chemie. 1500 Menschen stellen dort Silizium für Solarzellen her und Silikone als Baustoffe oder für Pharma-Produkte. Der bayerische Konzern gewährt seinen Mitarbeitern unter anderem eine Stunde flexibel einsetzbare Familienzeit pro Woche. Giffey hört auch dem aus München angereisten Vorstand zu, der über die hohen Stromkosten in Deutschland im Vergleich zu China klagt. Aber noch mehr interessiert sie, was die Arbeiter sagen. Thomas Kirsche nimmt die eine Stunde für seine Tochter und noch einmal 2,5 Stunden zur Pflege seiner Großeltern. „Da kommt keiner zu kurz“, sagt der junge Vater. Die Ministerin lässt sich von der seit 1982 im Werk tätigen Bärbel Werner erklären, wie sie mit der Unsicherheit nach 1989 klarkam, als die Belegschaft am traditionellen Chemie-Standort bis auf 700 Köpfe schrumpfte. „Erst mit Wacker hatten wir wieder das Gefühl, dazuzugehören“, sagt die Sächsin. Die Bayern haben das Werk 1998 übernommen. Dennoch, so wundert sich Giffey, kämen die Führungskräfte alle aus dem Westen.
Nach dem Ausflug in die Wirtschaft kehrt die Ministerin in Radebeul bei Dresden wieder auf ihr vertrautes kommunales Terrain zurück. Im Familienzentrum in einem schmucken Fachwerkhaus sieht sie sich darin bestätigt, dass lokale Initiativen den Unterschied machen, für Politik insgesamt und auch im Kampf gegen die AfD.
„Die Menschen wollen sich anerkannt fühlen, gesehen werden, und sie brauchen etwas Sinnvolles zu tun“, fasst der Geschäftsführer Mathias Abraham sein Rezept gegen schlechte Laune und politischen Extremismus zusammen. Das findet auch Giffey: „Wir brauchen viel mehr Menschen, die mehr für andere tun. Dann ist man auch zufriedener.“ Das will Franziska Giffey stets so halten, egal, in welchem Amt. „Derzeit ist jeder Tag davon geprägt, etwas für die Menschen zu tun. Und für die SPD.“