Berlin. Protestforscher Moritz Sommer sieht die Schülerbewegung am Beginn einer Entwicklung. Er rät von der Gründung einer eigenen Partei ab.

Für viele Schüler ist die erste Schulwoche bereits zu Ende – denn am Freitag werden sie ihre Klimaproteste im Zuge von Fridays for Future (FFF) fortsetzen. Zum ersten Schulstreik nach Ferienende und eine Woche nach dem Sommerkongress der Bewegung in Dortmund blickt Moritz Sommer, Geschäftsführer des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (IPB), im Gespräch mit der Berliner Morgenpost auf die Perspektiven von Fridays for Future.

Herr Sommer, wie lange können die Proteste weitergehen?

Moritz Sommer Ich gehe davon aus, dass die die Freitagsstreiks auch künftig der Kern der Protestbewegung sein wird und die Demonstrationen weitergehen. Die Frage ist, ob sie wieder so groß werden wie vor den Sommerferien. Aber die Protestform wird das Kernelement bleiben und dann werden sich andere Protestaktivitäten dazugesellen.

Welche andere Protestaktivitäten?

Sowohl im Vorfeld als auch auf dem Kongress in Dortmund gab es Diskussionen, dass es neue Aktionsformen geben muss. Beispielsweise gibt es schon Überschneidungen bei den Teilnehmern von „Ende Gelände“. Den FFF-Aktivisten ist bewusst, dass es neue Aktionsformen braucht, um weiter interessant zu sein – sowohl für die Medien als auch für die eigenen Mitglieder. Konfrontative Protestformen wie bei „Extinction Rebellion“ halten auch in Deutschland stärker Einzug. Solche Formen zu integrieren wäre denkbar, um mehr Druck auszuüben.

Moritz Sommer (33), Leiter des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (IPB) in Berlin.
Moritz Sommer (33), Leiter des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (IPB) in Berlin. © Privat | Moritz Sommer

Das könnte dann aber auf Kosten eines gemäßigten Teils der Bewegung gehen.

Ich gehe davon aus, dass es weiterhin eine große Palette an Protestformen gibt. Für jüngere Schüler könnten Formen des zivilen Ungehorsams eher eine Abschreckung darstellen. Aber es wird auch weiter die Schulstreiks geben, wo sich diese Zielgruppe wiederfinden kann.

Trotzdem könnten Konflikte entstehen.

Wenn sich eine Bewegung weiterentwickelt, gibt es immer die Gefahr, dass es neue Bruchlinien gibt, dass sich „radikalere“ Fraktionen anders positionieren und dadurch Konflikte entstehen. Ich sehe das als normale Entwicklung einer erfolgreichen Bewegung.

Inwiefern ist FFF denn eine normale Protestbewegung?

Besonders ist vor allem die hohe Beteiligung der jungen Menschen. Wir haben es in dieser Form noch nicht erlebt, dass die Initiative von Schulkindern, Jugendlichen und Studierenden ausgeht und erst jetzt immer mehr Erwachsene mobilisiert werden. Eine solche Entwicklung ist alles andere als alltäglich, sie ist außergewöhnlich. Daneben ist die Stärke der Bewegung bemerkenswert, wenn es darum geht, öffentliche Meinung herzustellen. Weniger ungewöhnlich ist dagegen die Zusammensetzung: Es sind durchweg eher höhergebildete Gymnasiasten, die sich beteiligen.

Aus einer Befragung von Ihnen geht hervor, dass fast die Hälfte der Demonstrierenden aus Akademikerhaushalten stammt. Muss man sich den Protest leisten können?

Plakativ heruntergebrochen kann man das so sagen. Generell ist es bei Protesten und sozialen Bewegungen in Deutschland und darüber hinaus so, dass sich eher die höher Gebildeten und die Bessergestellten beteiligen. Oft ist es so, dass die Protestierenden auch schon in Vereinen oder Organisationen aktiv sind.

Also spielen Organisationen eine zentrale Rolle?

FFF sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, sie sei von Umweltorganisationen fremdgesteuert. Das konnten wir in unserer Befragung nicht feststellen. Gerade diejenigen, die zum ersten Mal demonstrieren, sind meist nur entweder im schulischen Kontexten aktiv, also in der Schülervertretung, oder in Sportvereinen. Parteien oder Umweltorganisationen haben dagegen für die jungen Demonstrierenden keine große Rolle gespielt.

Sind solche Demonstrationen für junge Menschen prägend?

Bei FFF sind viele Protestneulinge dabei. Wir interpretieren das als Zeichen dafür, dass FFF viele Jugendliche mobilisiert hat, die vorher vielleicht gar nicht so politisch interessiert waren. Viele sind erstmals für ihre Interessen auf die Straße gegangen. Wir wissen aus Studien, dass sich diejenigen, die sich früh an Protestformen beteiligen, auch später im Lebenslauf in Organisationen oder in Protestbewegungen aktiv sein werden.

Die Weltverbesserer: Warum Schüler demonstrieren gehen

Vor Ort: So war der Tag mit Greta in Berlin

Warum politisiert ausgerechnet der Klimaschutz Jugendliche?

Aus Sicht der Jugendlichen wurde das Thema zu lange vernachlässigt. Zugleich wird aus der Klimadebatte eine Generationendebatte. So entsteht eine kollektive Identität aufseiten der Schüler, die sich gegen die Generation der Politiker stellen. Hinzu kommt: Gerade am Anfang wurden kaum eigene Forderungen gestellt. Stattdessen wurde gesagt: Ihr Politiker habt Versprechen abgegeben, jetzt haltet sie auch. Die Aussage verliert sich nicht in Details und ideologischen Grabenkämpfen. Sie ist anschlussfähig für viele, die in der Mitte oder links stehen oder sich gar nicht positionieren. Es ist nicht unbedingt eine politisch aufgeladene Forderung.

Wie konkret darf die Bewegung werden, um diesen Reiz nicht zu verlieren?

Es kommen immer mehr Forderungen auf, dass sich die Bewegung weiterentwickeln muss. Ich glaube, das passiert auch. Der Sommerkongress hat gezeigt: Es ging sehr viel stärker als bisher um inhaltliche Weiterentwicklung. Es haben sich neue Themengruppen gebildet. Ich kann mir auch vorstellen, dass Beteiligungschancen von Jugendlichen in der Demokratie stärker thematisiert, aber auch eigene Forderungen im Umweltbereich gestellt werden. Das ist eine Chance, um die Mobilisierung aufrechtzuerhalten.

Ein Ziel des Kongresses war der persönliche Austausch, da sonst viel über soziale Netzwerke kommuniziert wird.

Klar spielen soziale Medien für die Kommunikation und interne Organisation eine wichtige Rolle. Aber wenn wir uns anschauen, wie die Leute auf die Straße kommen, dann sehen wir in Deutschland und ganz Europa doch, dass direkte soziale Beziehungen mit Mitschülerinnen oder Freunden eine zentrale Rolle für die Mobilisierung gespielt haben – noch vor den sozialen Medien.

Im Juli nahmen Tausende Schüler zusammen mit der schwedischen Klima-Aktivistin Greta Thunberg an der Fridays-for-Future-Demonstration teil in Berlin teil.
Im Juli nahmen Tausende Schüler zusammen mit der schwedischen Klima-Aktivistin Greta Thunberg an der Fridays-for-Future-Demonstration teil in Berlin teil. © dpa | Paul Zinken

Ist die Internationalität der Bewegung für Deutschland eher eine Chance oder ein Risiko?

Es ist außergewöhnlich, dass nach demselben Muster nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt, Menschen mit dem gleichen Slogan auf die Straße gehen. Das ist eine große Chance, um weiter Medienaufmerksamkeit zu erhalten und das Thema auf der Agenda zu halten. Und klar ist: Klimaschutz ist ein Thema, das nicht von der Bundesregierung alleine vorangebracht werden kann. Da braucht es von Bewegungsseite diese transnationale Vernetzung, wenn es um die Durchsetzung der eigenen Ziele geht. Das gelingt bisher ganz gut, aber es ist auch eine Herausforderung.

Wie stark ist der Einfluss von Greta Thunberg?

Die Medienberichterstattung zu FFF konzentriert sich oft auf die führenden Personen. Eine solche mediale Aufmerksamkeit hätte es wohl nicht gegeben, wenn Greta Thunberg nicht so eine interessante Persönlichkeit wäre. Aus unserer Erhebung ging hervor, dass gerade bei jungen Mädchen die Person Thunberg als Vorbild fungierte und eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Mobilisierung spielte.

Hintergrund: Greta Thunberg in Berlin: „Haltet durch beim Klimaschutz

Verfahren: Doch kein Bußgeld für Fridays for Future Teilnehmer

Und die deutschen Sprecher wie Luisa Neubauer?

Auch Luisa Neubauer, die souverän in Talkshows auftritt und damit der Bewegung ein Gesicht gibt, ist hilfreich. Aber es stellt sich die Frage, ob es auch Konflikte mit sich bringt, wenn eine Person derart im Mittelpunkt steht. Auch das wurde in Dortmund reflektiert. Eine solche Reflexion ist wichtig, um die Leute bei der Stange zu halten und nicht frustriert zurückzulassen. Luisa Neubauer hat sich beim Kongress dezidiert zurückgehalten und keine Medieninterviews gegeben. Für den Protest braucht es aber beides. Zum einen die schiere Masse, die kreativen Protestformen. Zum anderen die Sprecher, die Gesichter der Bewegung.

40 Prozent der Protestierenden haben Ihrer Erhebung zufolge keine Parteipräferenz. Muss FFF also selbst zur Partei werden?

Es ist bei Jugendlichen nicht sonderlich ungewöhnlich, dass es keine klare Parteipräferenz gibt. Die Grünen sind natürlich mit weitem Abstand die favorisierte Partei für die Protestierenden. Ich denke, FFF ist ganz gut aufgestellt, sich zunächst als Bewegung weiterzuentwickeln. Ob es dann in näherer Zukunft eine Parteientwicklung gibt, werden wir sehen. Aber ich halte es für eher unwahrscheinlich und auch nicht für erstrebenswert.

Wie wichtig ist Berlin für die Bewegung in ganz Deutschland?

Die Mobilisierung in Berlin ist besonders stark. Die symbolische Nähe zur Regierung ist sowohl für Medien als auch für die Anhänger der Bewegung attraktiv. Zudem gibt es viele Umwelt-NGOs und Umweltbewegte in Berlin, mit denen Kooperationen geschlossen werden können. Daher gehe ich davon aus, dass Berlin weiterhin eine zentrale Rolle in der Mobilisierung für FFF in Deutschland spielen wird.