Justiz

Freispruch nach Mord im Clan-Milieu: Revision eingelegt

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Hans H. Nibbrig
Die Polizei riegelt den Tatort in Britz ab.

Die Polizei riegelt den Tatort in Britz ab.

Foto: Steffen Pletl

Als der Richter das Urteil verkündete, kam es zu Tumulten. Mittendrin: Clan-Chef Issa R. Die Staatsanwaltschaft geht in Berufung.

14 Monate wurde vor einer Jugendkammer des Landgerichts ein brutaler Mord im Clan-Milieu verhandelt. 50 Verhandlungstage lang blieb es ungeachtet der Brisanz solcher Fälle ruhig im Gerichtssaal. Doch am letzten Tag, der Vorsitzende hatte gerade mit der Urteilsverkündung begonnen, kam es zum Eklat. Auslöser: Issa R., Oberhaupt einer polizeibekannten Großfamilie und Vater des Angeklagten.

Von seinem Platz im Zuschauerbereich stimmte der Clan-Chef ein ohrenbetäubendes Geschrei an, beschimpfte den Vertreter der Staatsanwaltschaft, sprach von „Verrätern“ aus der Szene, die seinen Sohn beschuldigt hätten und ließ sich einfach nicht beruhigen. Vieles von dem, was er in den Saal hinein schrie, war unverständlich. Teils weil es zusammenhanglose Tiraden waren, teils, weil R. zwischendurch immer mal wieder von Deutsch auf Arabisch wechselte. Dabei hätte Issa R. allen Grund zur Zufriedenheit gehabt, denn das Gericht hatte seinen Sohn soeben frei gesprochen.

Doch R. war keineswegs beruhigt. Ganz im Gegenteil, immer lauter und schriller wurde das Geschrei. Weder Angehörige noch die Anwälte seines Sohnes konnten den Mann stoppen. Auch alle Versuche der Justizwachtmeister, von der ruhigen Aufforderung, sich zu beruhigen bis zum unmissverständlichen „Ruhe oder Raus“, blieben unwirksam. Den Justizwachtmeistern gelang es schließlich, den schreienden R. zunächst aus dem Verhandlungssaal und schließlich aus dem Gerichtsgebäude zu bugsieren. Zeugen zufolge sollen seine Beschimpfungen und Hasstiraden auf der Turmstraße unvermindert weiter gegangen sein.

Drinnen erklärte der Vorsitzende der 8. Jugendkammer am Mittwoch derweil, wieso die zahlreichen von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Indizien nach Auffassung des Gerichts nicht für eine Verurteilung des Angeklagten reichten. Der vorangegangene Eklat ließ den ursprünglichen Anlass für den Prozess fast in den Hintergrund treten. Es ging um rivalisierende arabische Großfamilien, Immobiliengeschäfte und einen angeblich nicht zurückgezahlten Kredit in sechsstelliger Hohe. Eine Konstellation, die schließlich in einem unfassbar brutalen Verbrechen mündete, begangen am 17. Mai 2017 gegen 8 Uhr morgens am Neumarktplan in Britz.

Ali O., das spätere Opfer hatte an diesem Morgen wie üblich seine Kinder zur Schule gebracht und war gerade zurückgekehrt, als er aus heiterem Himmel von drei vermummten Männern attackiert wurde. Einer der Angreifer schlug dabei immer wieder mit einem Baseballschläger auf den Kopf des 43-Jährigen ein. Von „massiven Schlägen“ sprach der Vorsitzende am Mittwoch in seiner Urteilsbegründung, die auch andauerten, als das Opfer längst regungslos auf dem Boden lag. Zeugen der Tat gab es genug, am Neumarktplan herrschte zum Tatzeitpunkt bereits reger Betrieb. Selbst Kinder mussten das schreckliche Geschehen mit ansehen.

Streit zwischen Opfer und Familie R. eskalierte

Zwischen Ali O. und der Familie R. schwelte bereits lange vor der Tat ein Streit, der zunehmend eskalierte. O. hatte bereits mehrfach bei der Polizei Strafanzeigen gestellt und zudem offenbar über Facebook massive Vorwürfe und Beschimpfungen an die Adresse der Familie R. verbreitet. Gegangen sein soll es um einen Kredit für ein Immobiliengeschäft, den O. Clan-Chef Issa R. angeblich gewährt hatte und den er nun zurückforderte.

Dass der Angeklagte Ismael R. die Schläge ausgeführt haben soll, erfuhr die Polizei angeblich von einem Informanten aus dem Clan-Milieu. Für eine Anklage und die Anordnung der Untersuchungshaft reichte das aus, für eine Verurteilung allerdings nicht. 80 Zeugen bot die Staatsanwaltschaft auf, darunter viele, die die Tat direkt beobachtet hatten. In der Hauptverhandlung stellte sich dann allerdings heraus, dass viele Zeugen nur einen Teil des Geschehens beobachtet hatten. Und Angaben zu den Tätern waren noch spärlicher, da diese vermummt waren. Die Aussage „Größe und Statur könnte hinkommen“, war dem Gericht zu wenig.

Es gebe zwar Hinweise auf eine Beteiligung der Familie des Angeklagten an der Tat, nicht aber auf eine Täterschaft des Angeklagten, stellte das Gericht fest. Das gilt auch für eine DNA-Spur, die die Staatsanwaltschaft vorlegte. Im Inneren der Hosentasche des Opfers war DNA-Material des Angeklagten festgestellt worden, Zusammen mit Aussagen von Zeugen, ein Täter habe sich an den Hosentaschen des am Boden liegenden zu schaffen gemacht, für die Anklagebehörde ein wichtiges Indiz, sollen die Täter bei dem Opfer doch nach einem Schuldschein gesucht haben.

Ein Sachverständiger wollte im Prozess jedoch nicht ausschließen, dass das DNA-Material des Angeklagten auch auf anderem Weg in die Hosentasche des Opfers gelangt sein könnte. Trotz der Enttäuschung über diese Form der Beweiswürdigung will die Staatsanwaltschaft in dem Fall nicht locker lassen.

Der Freispruch wird nun ein Fall für den Bundesgerichtshof. Die Staatsanwaltschaft habe Revision gegen das Urteil eingelegt, sagte eine Sprecherin am Donnerstag. Diese hatte achteinhalb Jahre Jugendstrafe wegen Totschlags gefordert.

Fragen und Antworten zum Eklat im Gericht

  • Welche Rechtsmittel sind möglich?
    Zulässiges Rechtsmittel nach einem Landgerichtsurteil ist grundsätzlich die Revision. Revisionsinstanz ist in den Fällen der Bundesgerichtshof (BGH).
  • Wie ist der Ablauf einer Revision?
    Revision einlegen können die Staatsanwaltschaft, der Angeklagte sowie dessen Verteidiger und unter bestimmten Voraussetzungen die Nebenkläger. Die Revision muss innerhalb einer Woche nach Urteilsverkündung erfolgen, danach bleibt noch einmal ein Monat für die Begründung. Dazu wird in der Regel der Eingang der schriftlichen Urteilsbegründung der Vorinstanz abgewartet.
  • Welche Möglichkeiten bietet eine Revision?
    Revisionsverfahren sind kompliziert. In ihnen geht es nicht mehr um den dem Urteil zugrundeliegenden Sachverhalt, geprüft wird vom BGH lediglich, ob das Verfahren oder das Urteil Rechtsfehler enthält. Die können sowohl in der Festlegung des Strafmaßes als auch in der Würdigung der vorgelegten Beweise enthalten sein. Nach der ersten Verurteilung der Kudamm-Raser beispielsweise gab der BGH der Revision der Verteidigung statt. Begründung: Die Vorinstanz habe beim Urteil weder den Vorsatz der Angeklagten noch die vom Gericht erkannten Mordmerkmale mit der notwendigen Klarheit begründet. In einem anderen Berliner Fall entschieden die Karlsruher Richter, die Vorinstanz habe die Möglichkeit, dass ein anderer als der Angeklagte die Tat begangen haben könnte, nicht intensiv genug geprüft. In beiden Fällen sah der BGH darin Rechtsfehler und verwies die Fälle zurück.
  • Was passiert nach der Entscheidung über die Revision?
    Wird der Revisionsantrag verworfen, ist das Urteil der Vorinstanz rechtskräftig. Wird der Revision stattgegeben, ordnet der BGH die Neuverhandlung vor einer anderen Kammer des selben Gerichts an. Eine Neuverhandlung kann auch in Teilen angeordnet werden, etwa dann, wenn es nicht mehr um die Schuldfrage, sondern nur noch um das Strafmaß geht.
  • Nach dem vom Vater des Angeklagten ausgelösten Eklat kündigte der Richter „Konsequenzen“ an. Wie könnten die aussehen?
    Bei ungebührlichem Verhalten im Gerichtssaal hat der Richter die Möglichkeit, ein Ordnungsgeld zu verhängen. In absoluten Ausnahmefällen ist theoretisch gar eine Ordnungshaft möglich. Sollte das Verhalten einen Straftatbestand wie etwa Beleidigung oder Bedrohung erfüllen, kann auch ein Strafverfahren eingeleitet werden. Was nach den Vorfällen vom Mittwoch als Konsequenz folgt, ist offenbar noch unklar.