Mietrecht

Zwischen Leid und Bedrohung: Was Gerichtsvollzieher erleben

| Lesedauer: 10 Minuten
Joachim Fahrun
Fassade eines Mietshauses in Berlin: Gerichtsvollzieher erleben sie jede Menge menschliches Elend.

Fassade eines Mietshauses in Berlin: Gerichtsvollzieher erleben sie jede Menge menschliches Elend.

Foto: picture-alliance / Bildagentur-o

Gerichtsvollzieher setzen in Berlin das Recht durch. Dabei sehen sie viel Elend. Und werden selbst bedroht. Wir haben sie begleitet.

Mit rasselnder Lunge steigt der Mann die Treppe herunter. „Ich habe bezahlt“, ruft der offensichtlich kranke Mann dem Gerichtsvollzieher entgegen. „Aber Sie haben keinen Beleg“, antwortet der knapp und steigt hinauf in den zweiten Stock des heruntergekommenen Mietshauses. Vorher hat der Schlosser mit einem gebogenen Blech die Haustür aufgehebelt. Die Schuldner wollten die kleine Gruppe nicht ins Haus lassen. Kurz droht ein Konflikt, wie so oft, wenn Gerichtsvollzieher in Berlin unterwegs sind.

Aber an diesem Morgen geht es friedlich aus. Der Afrikaner und seine Frau sind einsichtig. Der Mann von der Gasnetz-Gesellschaft bückt sich im sauberen Flur der Wohnung, steckt einen Pfropfen auf die Gasleitung, verplombt den Zähler. Das dauert kaum fünf Minuten. Der Schuldner muss jetzt mit der Netzgesellschaft regeln, ob das Gas wieder eingeschaltet wird. Und er muss die Kosten des Einsatzes tragen.

„Wir waren schon mal hier“, erinnert sich der Gerichtsvollzieher beim Rausgehen. „Und schräg gegenüber war doch der Typ mit den 4000 Euro Stromschulden“, bemerkt der Schlosser. Mit einer schweigsamen jungen Frau, die als Zeugin fungiert und aufpasst, dass nichts wegkommt bei den Einsätzen, sind sie schon länger gemeinsam unterwegs in diesem schlechten Viertel Berlins.

Wo genau, darf man nicht schreiben. Denn jeder der 272 Berliner Gerichtsvollzieher bearbeitet einen festen Bezirk. Es würde dem Mann womöglich schaden, dass er diese unschöne Seite von Berlin ganz unten so offen zeigt. Dabei ist sie Alltag in Berlin: Fast 19.000 Mal wurde Haushaltskunden 2018 der Strom abgestellt, mehr als 2000 Mal das Gas – und fast 5000 Wohnungen wurden zwangsgeräumt.

Die Termine folgen im Halbstundentakt

In seiner Aktentasche trägt der Gerichtsvollzieher die Unterlagen für die Tagestour mit sich. Jeder Vorgang in einer blauen Klarsichthülle, sortiert nach den im Halbstundentakt angekündigten Terminen. Die Gerichtsbeschlüsse, mit denen Strom- oder Gaslieferanten Sperrungen durchgesetzt haben. Oder die Urteile zur Zwangsräumung von Wohnungen, weil die Mieter zum Teil über Jahre die Miete schuldig geblieben sind.

Wie viel genau die Menschen schulden, warum sie in diese Lage geraten sind, ob die Urteile womöglich ungerecht sind, das will das dreiköpfige Team lieber nicht so genau wissen. Hier geht es darum, das Recht durchzusetzen. Auch wenn es bisweilen schwer fällt. Jeden Monat habe er mindestens eine Zwangsräumung und sechs bis sieben Strom- und Gassperren, sagt der Gerichtsvollzier. Bei Mietschulden gehe es meist um ein paar Tausend, bei den Leitungssperren eher um ein paar Hundert Euro. Dass Mieter-Aktivisten ihn bei einer Räumung behindern, habe er in diesem Teil der Stadt noch nie erlebt.

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„Ich habe schon eine Menge Elend gesehen“, sagt der Schlosser. Vor einiger Zeit war er mit einer jungen Gerichtsvollzieherin bei deren erstem Einsatz. „Wir hatten einen Suizid“. Aus Verzweiflung über den drohenden Verlust der Wohnung hatte sich die Mieterin erhängt. „Ich habe sie gefunden“, sagt der Schlosser. Seit zehn Jahren macht er diesen Job. Bald ist er durch, sagt er, holt sich einen „Krüppelschein“ vom Amt, geht in Frührente. Die Lunge ist kaputt. Draußen steckt er sich eine Zigarette an.

Viele Menschen, die sie aus der Wohnung werfen oder denen sie die Energieversorgung abklemmen, seien arme Hunde. Sie bräuchten dringend Hilfe, sagen die Männer. „Ich benachrichtige jedes Mal die soziale Wohnhilfe des Bezirksamtes, wenn eine Zwangsräumung ansteht“, sagt Gerichtsvollzieher. Reagiert hätten die aber noch nie.

Andere Schuldner hingegen seien „richtige Arschlöcher“, fügt der Schlosser an. „Die zahlen die Stromrechnung oder die Miete nicht, kaufen sich dafür lieber ein teures Handy und denken, sie kommen damit durch.“

Inzwischen warten sie vor dem nächsten Haus. Der Monteur vom Stromnetz kommt nicht. Vertane Zeit. Sie nutzen sie für eine Kaffeepause vor einem Späti und reden. Dass es schwierig sei, Zeugen zu finden, obwohl diese 20 Euro die Stunde bekommen. So gehe er mit nur einer los, obwohl eigentlich zwei vorgeschrieben seien, sagt der Gerichtsvollzieher. Aber die Ämter hätten keine Lust, ihre Mitarbeiter ganze Vormittage zu entbehren.

Mit dem Messer bedroht

Man zeigt Handy-Fotos. Ein Flur voller Müll in einer geräumten Wohnung. Ein schmaler Pfad zwischen Hunderten leerer Flaschen in einer anderen. „Neulich hatte ich eine Badewanne, vollgesch… mit Berg“, sagt der Schlosser. Oder es gibt Auseinandersetzungen wie mit den vier Arabern, die sie mit Messern bedroht hätten. Es hätte eskalieren können. Doch dann kam ein weiterer Mann, zog eine Rolle Scheine aus der Tasche und beglich großsprecherisch die Schuld. Manchmal laufen Gerichtsvollzieher offenbar mit einer ganzen Menge Bargeld herum.

Sie treffen bei ihrer Arbeit auf Leute, die ihnen wie die Reichsbürger die Legitimation absprechen und sie beschimpfen, weil sie Bundesrepublik Deutschland und ihre Vertreter nicht anerkennen. Oder auf den Opa, der seine Tür mit Latten verbarrikadiert hatte. Der Schlosser wäre fast gescheitert, dabei ist er so stolz darauf, auch die schwersten Türen öffnen zu können. Sie haben dann die Polizei geholt. Sie hatten überprüft, dass der alte Mann schon mal einen Gerichtsvollzieher mit dem Messer attackiert hatte. Als der Schlosser schließlich ein Loch in die Wohnungstür gehauen hatte, stand ein Polizist mit gezogener Pistole hinter ihm gestanden. Aber der Alte saß doch nur auf einem Stuhl und habe sie angemeckert, berichten die Männer.

Dann klingelt das Handy des Gerichtsvollziehers. „Hundert Euro im Monat, okay“, sagt er ins Telefon. Eine Großmutter – habe er bei ihr die Handyschulden des Enkels pfänden wollen. Jetzt habe sich die Frau den Jungen zur Brust genommen und eine Ratenzahlung vereinbart.

Nächster Termin: eine unbezahlte Gasrechnung, Erdgeschosswohnung. Niemand öffnet. Der Schlosser knackt die Wohnungstür in einer Minute, sie war nur zugeklappt. „Die wussten, dass wir kommen und wollten sich das neue Schloss sparen“, die Männer sind sicher. Das kostet bis zu 200 Euro und wird auf die Schuldenlast draufgeschlagen. Auf dem Klingelschild stehen deutsche und skandinavische Namen. Drinnen stehen Sneakers auf einem sauber abgezogenen Dielenboden. Die Wände strahlen frisch geweißt. Halogenlampen werfen Licht in den Flur. Sieht aus wie eine Studenten-WG. Der Gas-Mann schreitet zur Tat. Minuten Später ist die Gasleitung verstopft. Ohne eine Nachricht zu hinterlassen rückt die Gruppe wieder ab.

An einer Wohnung riecht es verdächtig nach Gas

Der nächste Termin ist der heikelste des Tages – eine Zwangsräumung. Vor der Tür des abgewohnten Mietshauses wartet schon der Speditions-Lastwagen. Wortkarge Möbelpacker mit vielen Tätowierungen reichen den drei die Hände. Man kennt sich. Auch zwei Mitarbeiter der Hausverwaltung sind schon da.

Mit Schlosser und Zeugin steigt er die Treppe des Altbaus hinauf und pocht im zweiten Stock an der mittleren Tür. Nichts rührt sich. Er klopft energischer. Geräusche in der Wohnung, etwas zischt. Der Gerichtsvollzieher späht durch den Briefschlitz. Hält kurz die Luft an. Dreht sich zum Schlosser um. „Riech mal! Gas!“ Einen Moment herrscht atemlose Stille auf dem Treppenabsatz. Man weiß nie, ob nicht ein verzweifelter Mieter den Gashahn geöffnet hat und gleich alles in die Luft fliegt.

Nochmal klopfen. Endlich bewegt sich die Tür. Es erscheint die schwarze Tolle eines jungen Mannes. „Sind Sie Herr Schneider (Name geändert)?“ Nein, der sei nicht da. „Kenn ich nicht“, sagt der Mann in gebrochenem Deutsch. „Packen Sie Ihre Sachen und verlassen Sie die Wohnung“, sagt der Gerichtsvollzieher sehr bestimmt und drängt sich in den Flur der Zwei-Zimmer-Wohnung.

Die Küche ist voller Dreckspritzer. Die Herdplatten umringt eine dunkelbraune Schmutzschicht. Ein Haufen frischer Verpackungsfolien aus Plastik liegt auf dem abgetretenen Linoleumboden. Ein Reisgericht schimmelt auf der Kommode. Auch das kleine Bad ist vergammelt. Die Zeugin macht Fotos, der Schlosser steht auf dem Treppenabsatz. Ein zweiter Mann sitzt im linken Zimmer. An der Wand hängen Bilder vom Felsendom in Jerusalem und eine palästinensische Fahne. Zwei Matratzen liegen auf dem Teppich, die Betten ungemacht. Neben der Couch glänzen zwei teure minzfarbene Turnschuhe.

„Nehmen Sie Ihre Sachen, die Wohnung wird geräumt“, sagt der Gerichtsvollzieher und die beiden Araber beginnen zu verstehen. Sie greifen sich weitere Schuhkartons mit edlen Sneakern, schultern ihre Rucksäcke und stehen gleich darauf mit Plastiktüten in den Händen auf der Straße. Waren sie Untermieter? „Mein Bruder“, radebrecht der eine. Wo sie jetzt hingehen? „Wissen wir nicht.“ Dann sprechen sie aufgeregt auf Arabisch in ihre Handys.

Womöglich hat ein deutscher Mieter seine Bleibe untervermietet und dennoch die Miete nicht gezahlt? „Nein, die wussten, dass wir kommen“, widerspricht der Fachmann. Die Tüten seien gepackt gewesen. Der Gerichtsvollzieher vermutet, die Jungs könnten mit Diebstählen oder Drogen zu tun haben. Hinter ihm steht jetzt der Hausverwalter im Flur. Tapeten an den Wänden, Dielenfußboden im Flur, inventarisiert er. Gleich wird das Schloss ausgewechselt.

Die Möbelpacker ziehen sich Gummihandschuhe über und räumen den Dreck zusammen. Möbel und andere Habseligkeiten lagert die Spedition ein, hat der Gerichtsvollzieher den beiden jungen Bewohnern noch erklärt. Holt sie niemand ab, werden sie nach einem Monat entsorgt oder versteigert.

Dann ist die Tour für heute vorbei. Der Gerichtsvollzieher fährt in sein Büro, er muss ein paar Pfändungen für die nächsten Tage vorbereiten. Leitungen sperren und Wohnungen räumen ist erst nächsten Monat wieder dran.