Berlin. Sozialpädagoge Gunnar Tayert (51) arbeitet seit der Gründung im Jahr 2005 beim Pflegekinderdienst „Pflegekinder im Kiez“ (PiK).
Berliner Morgenpost: Im April hieß es seitens der Jugendämter und freien Trägern, es gebe zu wenige Pflegefamilien. Wie ist die Situation bei PiK?
Gunnar Tayert: Die Situation ist hier wie in vielen anderen Teil der Stadt: Wir haben zu wenige Pflegeeltern. Vor allem suchen wir händeringend Menschen, die sich die Kurz- oder die Krisenpflege vorstellen können. Die fehlen noch mehr als die Dauerpflegebewerber.
Warum gibt es so wenige Kurzpflegefamilien?
Es ist eine schöne, aber intensive Aufgabe – aber ich denke, es hat etwas damit zu tun, dass sich die Bevölkerungsstruktur hier im Kiez verändert. Das Modell, dass eine Person das Geld verdient, während die andere zuhause bleibt und sich um ein Kind kümmern kann, wird hier seltener. Wir vermuten auch, dass die Familien nicht wieder Abschied nehmen möchten. Die Familien kümmern sich sehr intensiv um das Kind, da es sowohl Orientierung, Sicherheit als auch Zuwendung braucht. Oft müssen die Kinder auch bei Ärzten und Therapeuten vorgestellt werden. Ein Kind nach dieser intensiven Phase wieder abzugeben, fällt manchmal schwer, besonders, da ein halbes Jahr oft nicht ausreicht, um die Perspektive zu klären.
Warum nicht?
Soll das Kind zu den leiblichen Eltern zurückkehren, müssen diese in der Zeit eine starke Entwicklung machen, um das Jugendamt davon zu überzeugen, das Kind wieder zurückzugeben. Dafür ist ein halbes Jahr sehr knapp bemessen. Schaffen sie es in der Zeit nicht, dauert die Kurzpflege länger, manchmal zehn, oder auch zwölf Monate, und alle gewöhnen sich noch mehr aneinander.
Könnten die Kinder denn nicht einfach dort bleiben, wo sie sind?
Manchmal ist das möglich, manchmal ist es aber auch nicht sinnvoll. Das hängt sehr vom Kind ab, von der Familienkonstellation, und der Zeit, die das Kind in der Kurzpflege verbracht hat. Wenn es über ein Jahr dort war, dann wird eher überlegt, ob es Sinn ergibt, dieses Kind nochmal woanders unterzubringen. Für manche Kinder, die aus der Kurzzeitpflege wechseln sollen, haben wir geeignete Dauerpflegefamilien, dann ergibt es durchaus einen Sinn, dass das Kind noch einmal wechselt.
Welche Gründe begegnen Ihnen für Inobhutnahmen?
Die Jugendämter sind da dichter dran. Auf jeden Fall muss schon eine Kindeswohlgefährdung vorliegen beziehungsweise vermutet werden. Die einfache Vermutung, dass es dem Kind nicht so gut geht, wie es ihm gehen könnte, reicht nicht aus. Wenn ein Kind aus der Familie genommen wird, geht es um den Verdacht auf häusliche Gewalt, starke Vernachlässigung oder Hinweise auf Kindesmissbrauch.
Wie viele Kinder vermittelt PiK?
In manchen Jahren haben wir rund zehn Kinder vermittelt, in anderen Jahren, wie auch jetzt, haben wir vielleicht fünf oder sechs Vermittlungen gemacht. Das ist nicht viel. Manchmal bekommen wir über Wochen hinweg keine Anfrage.
Gibt es etwa gar nicht so viele Kinder, die eine Unterbringung brauchen?
Kinder, die eine Krisenpflegeunterkunft bräuchten, gibt es auf jeden Fall. Ich denke, dass die Kinder nur manchmal eher in Einrichtungen untergebracht werden, weil das schneller geht und mitunter unkomplizierter ist. Die Jugendämter haben einfach oft eine prekäre Personalsituation und sind permanent unterbesetzt. Ein weiterer Grund ist sicher, dass unser Jugendamt weiß, dass wir zu wenig Kurz- oder Krisenpflegefamilien im Kiez haben und auch in anderen Kiezen oft nicht fündig werden.
Werden mehr Kinder als früher aus ihren Familien geholt? Oder gibt es einfach weniger Menschen, die bereit sind ein Kind in Pflege zu nehmen?
Ich vermute, es gibt mehr Kinder, die in Obhut genommen werden und ich denke, das ist das Ergebnis der Entwicklungen der letzten Jahre: Die Verhältnisse in den Familien werden nicht einfacher, der Druck wird größer und ich kann mir vorstellen, dass die Familien so schneller in eine Überlastungssituation kommen. Ich denke, dass die Jugendämter heute auch viel genauer hinschauen und schneller aktiv werden, vor allem bei kleinen Kindern. Gleichzeitig werden diejenigen, die Kinder aufnehmen, nicht mehr, sondern eher weniger.
Welche Rolle spielt fehlende Anerkennung?
Eine wichtige, denke ich. Angehende Pflegeeltern hören von uns in der Vorbereitung zum Beispiel, dass es gerne gesehen und manchmal auch erwartet wird, dass sie vorübergehend zuhause bleiben, wenn ein Kind zu ihnen kommt. Damit das Kind zur Ruhe kommt und immer jemanden an seiner Seite hat. Zugleich hören die Eltern aber, dass sie in dieser Zeit kein Elterngeld bekommen – anders als leibliche Eltern. Da kann man durchaus auf die Idee kommen, dass diese Aufgabe nicht genügend gewürdigt wird. Ich finde, das ist ein Aspekt, der dringend geändert werden muss. Trotzdem bekommen die Eltern natürlich ganz viel Anerkennung von uns, schließlich sind wir ganz dicht dran und sehen, was sie Großartiges leisten.
Und gesellschaftlich?
Ich würde mir mehr Aufgeschlossenheit, Respekt und vielleicht sogar etwas Dankbarkeit den Pflegeeltern gegenüber wünschen. Sie übernehmen eine wichtige Aufgabe in unserer Gesellschaft.
Gibt es Vorurteile mit denen Pflegeeltern konfrontiert werden?
Oft begegnet einem die Frage, ob Pflegeeltern nicht allein aus finanziellem Interesse handeln würden. Das ist falsch – das war vielleicht früher so, als die Strukturen noch andere waren. Heute bekommen Pflegeeltern einen festen Satz für den Unterhalt des Kindes, zusätzlich in der Regel rund 300 Euro, aber das ersetzt nicht im Ansatz ein Gehalt. Das Bild von Pflegefamilien ist leider stark geprägt von den Fällen, in denen es den Kindern in den Familien nicht gut ging. Über die vielen guten Beispiele wird kaum berichtet.
Die schwierige Suche nach geeigneten Pflegeeltern in Berlin