In der Nähe des Hermannplatzes, nur einen Steinwurf von der Weserstraße entfernt, wohnt Veronica Hamer mit ihrer Tochter Mia* in einer großzügigen Altbauwohnung. Auch wenn Veronica Hamer Mia ihre Tochter nennt und Mia Mama zu ihr sagt, ist das Mädchen nicht Veronica Hamers leibliches Kind. Mia hat noch eine Mutter – eine, die nicht anwesend und trotzdem da ist. Mia ist eines von mehr als 2200 Kindern in Berlin, die bei Pflegeeltern aufwachsen.
In Berlin gab es im Jahr 2017, so die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, 2015 „Inobhutnahmen“. Der Begriff aus dem Sozialgesetz bezeichnet die vorläufige Aufnahme und Unterbringung eines Kindes oder Jugendlichen in Notsituation durch das Jugendamt. Die Gründe für Inobhutnahmen sind vielfältig, oft kommen die Kinder wieder zu ihren Familien zurück. In den Fällen, in denen eine Gefährdung des Kindeswohls vorliegt oder vermutet wird, müssen die Jugendämter jedoch andere Unterbringungslösungen finden. Zum Beispiel in Pflegefamilien.
+++Interview: "Die Verhältnisse werden nicht einfacher, der Druck steigt"
Die Suche nach geeigneten Familien gestaltet sich aber zunehmend schwieriger. Anfang April schlugen Jugendämter und freie Träger der Jugendhilfe erneut Alarm, es gebe zu wenige Pflegefamilien, um den Bedarf zu decken. Das Problem bestehe bundesweit. Allein in Berlin fehlten jährlich etwa 500 Familien, sagt Peter Heinßen, Geschäftsführer der Einrichtung „Familien für Kinder“, die sich für die Qualifizierung der Betreuung in familiärer Umgebung einsetzt.
Veronica Hamer hat sich schon vor vielen Jahren für ein Leben mit Pflegekind entschieden. Vor fast genau sieben Jahren, im Sommer 2012, kam ihre Pflegetochter zu ihr, heute ist sie zehn Jahre alt. Die Vermittlung lief damals über „Pflegekinder im Kiez“ (PiK), sagt Hamer, einen freien Träger der Jugendhilfe.
In den Bezirken Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln betreut PiK zurzeit rund 200 Pflegekinder. Dabei geht es in der Arbeit von PIK um viel mehr als bloße Vermittlung – der Träger betreut die Kinder und Familien von Anfang an bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Kind die Familie wieder verlässt.
Wenn Veronica Hamer an die erste Zeit mit ihrem Pflegekind zurückdenkt, muss sie lachen: „Da braucht man gar nicht um den heißen Brei rumreden – es war wahnsinnig anstrengend.“ Mia war damals noch sehr klein und in einer für sie ganz neuen Umgebung, sie sei vollkommen auf sie angewiesen gewesen. „Ich konnte keine Minute für mich sein, es war wie ein neugeborenes Kind zu haben, in der Nacht ist sie bis zu fünfmal aufgewacht“, erinnert sich die Pflegemutter.
Hamer, kurze Haare und lautes, ansteckendes Lachen, sitzt in ihrer hellen Altbauküche. Die Wand neben dem Esstisch schmückt eine Zitronentapete.
Natürlich sei sie darauf vorbereitet gewesen, sagt sie, einigermaßen – aber diese Wucht, die könne man vorher einfach nicht abschätzen: „Das ist wie bei einem leiblichen Kind, alle sagen, ‚dein Leben wird sich verändern‘ und man antwortet ‚jaja, ich weiß‘, aber was dann kommt, mit allen Höhen und Tiefen, das kann man rational gar nicht erfassen.“ Sie lächelt.
„Wir waren wie in einem Kokon, ganz eingeschlossen zu zweit“
Als Mia zu ihr kam, räumte Veronica Hamer ihr Schlafzimmer zum ruhigen Hinterhof und richtete dort ein Kinderzimmer ein. Ihr Bett steht seitdem in einem der beiden großen Zimmer, es ist gleichzeitig Wohn-, Spiel- und Schlafzimmer.
Veronica Hamer hat ihre Freunde von Anfang an viel eingebunden, Rundmails geschrieben, über gute und schlechte Erfahrungen berichtet, „alle haben mitgefiebert“, erinnert sie sich. Da sie sich zu Beginn ganz auf ihre Tochter konzentrieren musste, waren die Mails ihr Draht zur Außenwelt. „Wir waren wie in einem Kokon“, sagt sie und bildet mit ihren Händen einen schützenden Raum, „ganz eingeschlossen zu zweit“.
Ein paar Ecken weiter, in einer Seitenstraße vom Kottbusser Damm, wo sich Cafés, Spätis und Wettbüros abwechseln, liegt das Neuköllner Büro von PiK. Von außen ist es kaum zu erkennen, nur ein Schild auf dem Fahrradständer weist darauf hin. In der geräumigen Altbauwohnung im ersten Stock bereitet Alessia Vailati den Informationsabend vor. Hierhin kommen Menschen, die sich vorstellen können, Pflegevater oder Pflegemutter zu werden – es ist der erste Schritt auf dem Weg in Richtung Pflegefamilie.
Die Besucher seien oft nervös, deswegen sei es ihr wichtig, ihnen ein gutes Gefühl zu geben. „Sie sollen sich nicht direkt überprüft fühlen“, sagt Vailati, während sie Tassen und Gläser neben die Teekanne auf dem Couchtisch stellt. Die Kinderpsychologin, lange dunkele Locken und freundliches Lachen, ist vor einigen Jahren aus Rom nach Berlin gekommen und arbeitet seit knapp drei Jahren für den Pflegekinderdienst. So verschieden die Menschen in Neukölln sind, so unterschiedliche seien auch die Pflegefamilien im Bezirk, sagt Vailati. „Wir begleiten viele Familienkonstellationen. Bei uns sind alle willkommen, die einem Kind ein Zuhause geben wollen. Zu unseren Pflegefamilien zählen Regenbogenfamilien, muslimische Familien, Alleinerziehende. Alle Bildungsschichten sind vertreten.“
Alessia Vailati sieht die sinkende Zahl von Pflegefamilien mit Sorge, und die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt vergrößere das Problem. Dass ein Pflegekind perspektivisch ein eigenes Zimmer bekommen kann, ist eine Voraussetzung für die Vermittlung. Ein großes Problem sei auch das mangelnde gesellschaftliche Bewusstsein, vermutet Vailati. „Viele Menschen wissen nicht, dass es solche Pflegeverhältnisse überhaupt gibt. Selbst in meinem Bekanntenkreis kommt das immer wieder vor“.
Die vielfältigen Probleme zeigen sich auch bei den Informationsveranstaltungen. „Wir lassen den Infoabend möglichst nicht ausfallen, egal wie wenige Anmeldungen wir haben“. Die Situation sei einfach zu drängend. Auch zum heutigen Infoabend kamen zwei Absagen, sagt Vailati.
Dann klingelt es an der Tür, die erste Interessentin ist da und scheint selbst überrascht, dass sie heute die Einzige ist. „Ich habe ehrlich nicht damit gerechnet, hier alleine zu sein“, sagt Johanna Klein*, setzt sich auf das blaue Sofa und lässt den Blick über die bunten Bilder an den Wänden und das Kinderspielzeug wandern. Ihre blonden Haare hat sie zum Pferdeschwanz gebunden, sie scheint ein wenig aufgeregt, aber nicht nervös. Die Diplompädagogin hat klare Vorstellungen davon mitgebracht, was sie sich in Bezug auf ein Pflegekind zutraut: „Durch meine Freiberuflichkeit habe ich die Freiheit, mir immer wieder Zeitfenster zu schaffen, in denen ich nicht arbeiten muss“, erklärt sie. Ein halbes Jahr ganz für ein Kind da zu sein, sei ein Modell, das sie sich gut vorstellen könne.
Für eine funktionierende Vermittlung sei es wichtig, dass sich Pflegeeltern bewusst sind, was sie sich zutrauen und das auch klar äußern, sagt Vailati. Die Kinder kämen aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen und bildeten eine Bandbreite ab, die sich zwischen „ganz normal“ und „hochtraumatisiert“ bewege. „Klar wollen viele am liebsten ein Kind, das noch sehr jung ist, aber gerade dann fällt es schwer einzuschätzen, wie es sich entwickeln wird“, erklärt die Kinderpsychologin.
Die Gespräche, die bei PiK geführt werden, sind oft sehr persönlich. Potenzielle Pflegeeltern erzählen von ihrem Alltag, ihren Sorgen und Wünschen in Bezug auf Kinder. Und auch von ihren Enttäuschungen.
Auch für Johanna Klein ist dieser Informationsabend nicht der erste Schritt auf dem Wunsch nach einem Kind. Vor einigen Jahren meldete sie sich beim Berliner Senat und durchlief das Überprüfungsverfahren für Adoptivmütter. Die Erfahrungen, die sie im Adoptionsverfahren gemacht hat, beschreibt sie als emotional sehr fordernd. „Im Laufe das Verfahrens wurde mir gesagt, dass meine Freiberuflichkeit für eine Adoption eine Hürde darstellt, also habe ich nach einer Festanstellung gesucht.“
Die Pädagogin wäre durchaus bereit gewesen, Berlin für eine Festanstellung zu verlassen, das aber wiederum wollte die Adoptionsvermittlungsstelle nicht. „So habe ich weiterhin freiberuflich gearbeitet, suchte aber gleichzeitig nach einer festen Stelle und befand mich im Adoptionsverfahren. Das war unglaublich erschöpfend, also hörte ich irgendwann auf zu suchen, sonst hätte ich meine Arbeit nicht fortführen können.“
Neben den technischen Fragen zur Überprüfung oder der finanziellen Unterstützung spielen Fragen von Nähe und Distanz eine wichtige Rolle. Wer ist die Pflegemutter oder der Pflegevater für das Kind? Wie läuft die Zusammenarbeit mit den leiblichen Eltern, wie die Zusammenarbeit mit dem Träger? Und unterscheidet sich in diesen Fragen die Kurzzeit- von der Langzeitpflege?
Es gehe darum, den Kindern, auch in der Kurzzeitpflege, ein Zuhause zu geben, eine Beziehung aufzubauen und zur Bezugsperson zu werden, sagt Vailati. Gleichzeitig müsse man im Hinterkopf behalten, dass das Kind nicht das eigene Kind sei. „Man kann das Kind nicht retten, nicht ungeschehen machen was passiert ist, aber man kann das Schicksal des Kindes mittragen. Das ist das Wichtigste.“ Gerade die Kurzzeitpflege setze eine hohe emotionale Belastbarkeit voraus, besonders, wenn Pflegeeltern das Kind weiter- oder zurückgeben in eine Situation, die ihnen selbst nicht so optimal erscheint.
„Man muss lernen, kindgerecht die Wahrheit zu sagen“
Auch sei es wichtig für die Kinder, dass Pflegeeltern ihnen bei den Fragen nach ihrer Herkunft und ihren leiblichen Eltern helfen. „Biografiearbeit“ wird das bei PiK genannt. Man müsse lernen, kindgerecht die Wahrheit zu sagen. Auch kleine Kinder könnten es verstehen, wenn man ihnen erklärt, warum ihre Eltern sich nicht um sie kümmern können. Das sei sehr wichtig für eine gute Entwicklung der Kinder, so Vailati.
Ob es vorkommt, dass Pflegeeltern es sich wieder anders überlegen und keine Kinder mehr aufnehmen, will Johanna Klein wissen. Die Kinderpsychologin schüttelt den Kopf: „Viele sagen, sie hätten es sich anders vorgestellt, aber nein, aufgehört hat noch keine Familie“.
Als sie sich vor sieben Jahren entschied, ein Pflegekind aufzunehmen, war Veronica Hamer bereits eineinhalb Jahre von ihrem Mann getrennt. Damals sprach sie schon einmal mit der Berliner Morgenpost. „Das klingt vielleicht so, als hätte ich meine Vorstellungen immer niedriger geschraubt: Erst wollte ich ein leibliches Kind, dann ein Adoptivkind, nun ein Pflegekind, aber ich empfinde das nicht so. Das sind einfach verschiedene Wege, mit einem Kind zusammenzuleben.“ Davon ist sie bis heute überzeugt. Das Zusammenleben gestalte sich ja ganz genauso wie bei einem leiblichen Kind, sagt sie, ob es ums Wickeln, Zähneputzen oder auch um die Muttertagsgeschenke geht. Für sie war es der Wunsch, mit einem Kind zusammenzuleben, sich zu kümmern, der sie angetrieben hat: „Ich glaube, das ist, wenn auch natürlich nicht für alle, ein ganz normales menschliches Bedürfnis“.
Von diesem Bedürfnis spricht auch Johanna Klein. Durch die Medienberichterstattung der letzten Monate über die vielen fehlenden Pflegeeltern sei der Gedanke, den sie eigentlich an den Nagel gehängt hatte, wiedergekommen.„Da kommt dann so ein Gedanke und nimmt Raum ein, erst ein wenig, dann immer mehr und wenn man darüber redet, dann ist er da“, sagt Johanna Klein. Ausschlaggebend sei für sie auch das Gefühl der Veränderung gewesen: „Vor ein paar Jahren hätte ich mir nicht vorstellen können, ein Pflegekind aufzunehmen, schon gar nicht in Kurzzeitpflege, doch heute traue ich mir das zu. Ich merke, dass ich etwas zu geben habe.“
In ihrem Bekanntenkreis wissen noch nicht viele von ihrer Idee. „Ich versuche, den Ball flachzuhalten“, sagt sie. Nach der Erfahrung im Adoptionsverfahren sei die Sorge zu groß, dass es dann doch nicht klappt. Viel wichtiger aber sei, dass sie wisse, dass sich ihre Freunde für sie freuen würden. „Und wenn es doch mal eng kommt, dann kann ich mit viel Unterstützung rechnen, das ist sehr wichtig für mich“.
Zu den leiblichen Eltern von Mia gebe es keinen Kontakt, sagt Veronica Hamer, nur die Mutter hätte sie einmal getroffen. „Ich glaube, sie wollte sehen, wie ich so bin, wie ich aussehe“, vermutet Hamer. Für ihre Tochter sei das schwierig, auch wenn es von Anfang an einen offenen Umgang mit dem Thema gab. Rückblickend sagt sie, sie habe es unterschätzt, wie präsent das Fehlen der Mutter ist. Es seien die kleinen, oft ganz unspektakulären Momente, in denen sie daran erinnert werde. Das sei eine wichtige Lektion. „Man muss akzeptieren, dass dieses Kind einen absolut schlimmen Verlust erlebt hat. Als wenn jemand stirbt, das wird ja auch nie wieder richtig gut“. Man müsse lernen, das zu akzeptieren und damit umzugehen.
Mia nehme kein Blatt vor den Mund, wenn es um ihre Familie geht, sagt die Pflegemutter. „Sie kennt da gar nichts und weiß, dass sie damit schocken kann. Sie erzählt es jedem – gerne auch mal dem Sitznachbarn im Zug, ob er es hören will oder nicht – das kann sogar mir manchmal unangenehm sein“, sagt Hamer und lacht dann aber ihr schallendes Lachen.
Johanna Klein sagt, sie habe immer viele Kinder um sich, im Freundes- und Bekanntenkreis, im Wohnhaus oder als Babysitterin. Die hätten sie vielleicht ein wenig auf den Job als Pflegemutter vorbereitet. Trotzdem denke sie nicht, dass es eine leichte Aufgabe ist: „Klar habe ich Angst, dass ich es nicht packe und plötzlich nachts um fünf dastehe und die Polizei rufen muss. Die Sorge, dass man sich übernimmt, ist immer da.“ Trotzdem habe sie großes Vertrauen in die Kinder. „Ich glaube, dass sich Kinder mit der gegebenen Zeit auf neue Situationen einlassen und diese annehmen können.“
Das scheint auch Hamer bestätigen zu können. Man merke, wie sehr die Kinder ankommen wollten, sagt sie. „Sie spüren ja, wenn sie geliebt und gewollt werden. Das ist ja das, was ihnen vorher vielleicht gefehlt hat.“
Dass immer weniger Menschen sich vorstellen können, Pflegekinder aufzunehmen, macht Hamer an verschiedenen Gründen fest. Sie habe sich damals sechs Wochen frei genommen um ganz für Mia da zu sein, „anders wäre das unmöglich gewesen“, dass schrecke sicher viele Leute ab, auch weil die finanzielle Unterstützung kein Gehalt ersetze. „Ich kann mir auch vorstellen, dass viele davor zurückschrecken sich mit den Herkunftseltern auseinanderzusetzen zu müssen“, fügt sie hinzu, denn letztendlich seien es die Probleme der Gesellschaft mit denen man über die Kinder konfrontiert sei – Drogenabhängigkeit, Alkohol, Depressionen.
Schlussendlich sei die Angst davor aber übergroß: „Ich kann nur versuchen, eine Lanze dafür zu brechen, sich darauf einzulassen. Viele sagen: ‚Oh Gott, das ist so anstrengend!‘ – Ja, Kinder sind anstrengend, und natürlich war und bin ich immer wieder verzweifelt, aber das sind andere Eltern auch. Ich sehe da keinen qualitativen Unterschied zu leiblichen Kindern und durch die gute fachliche Unterstützung werden viele Probleme aufgefangen.“
Um kurz vor halb acht ist der Informationsabend in Neukölln zu Ende, Vailati drückt Johanna Klein noch die blaue Mappe mit Informationsmaterialien und dem Fragebogen für potenzielle Pflegeeltern in die Hand. „Sie könne ja schon mal hineinschauen“, sagte sie und bringt Klein zur Tür. „Ich gehe mit einem guten Gefühl nach Hause“, sagt Johanna Klein. „Ich weiß, dass die Angst zu versagen mich nicht weiter bringt. Ich glaube es gehört dazu, sich auch mal aus dem Fenster zu lehnen“.
*Namen geändert