IG-Metall-Demonstration

Zehntausende demonstrieren für sozialen Umbau der Industrie

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Erik Baumgärtel
IG-Metall-Mitglieder zogen am Sonnabend durch Berlins Zentrum.

IG-Metall-Mitglieder zogen am Sonnabend durch Berlins Zentrum.

Foto: Annegret Hilse / Reuters

Bis zu 50.000 Menschen ziehen bei der IG-Metall-Demonstration durch Berlin. Sie fordern, beim Wandel der Industrie beteiligt zu werden.

Dass ihre Siemens-Kollegen in Treptow drei Stunden mehr arbeiten müssen, aber gleichen Lohn erhalten, findet Christoph Lüdtke vom Gasturbinenwerk in Moabit „einfach nur lächerlich“. „30 Jahre nach der Wende sollten solche Ungleichheiten eigentlich vom Tisch sein“, sagt der 56-Jährige.

Lüdtke und seine Kollegen sind heute zur Demonstration der IG-Metall vor dem Brandenburger Tor gekommen. Unter dem Motto „Fairwandel“ fordert die Gewerkschaft von Politik und Arbeitgebern, die Energie- und Verkehrswende energischer anzugehen und gleichzeitig Arbeitsplätze zu erhalten. Lüdtke selbst möchte für seine Produktion mit Gasturbinen als effiziente und umweltfreundliche Methode werben.

IG-Metall fordert Mitspracherecht beim digitalen Wandel

Neben ihm und seinen Kollegen machten laut Veranstalter 50.000 Menschen aus verschiedensten industriellen Bereichen ihren Sorgen über eine sich schnell verändernde Arbeitswelt Luft. Für Diskussionsstoff sorgten außerdem die ungerechten Arbeitszeiten in Ost und West, fehlende Investitionen in die digitale Infrastruktur und in grüne Stromnetze und fehlende Ladestationen für Elektroautos. Zudem forderte die Gewerkschaft ein größeres Mitspracherecht für Beschäftigte vor dem Hintergrund des digitalen Wandels.

Die Rede von Jörg Hofmann, Chef der IG-Metall, lässt sich daher auch als Mahnung verstehen: „Der Klimawandel ist eine existenzielle Bedrohung. Doch Ökologie und gute Arbeit sind kein Widerspruch“, so der Gewerkschaftschef. „Wir wollen dabei nicht am Spielfeldrand stehen, sondern wollen mitmischen.“ Die Botschaft sei an die Industriebosse gerichtet, von denen viele im digitalen Wandel vor allem die Möglichkeit sähen, Stellen abzubauen. Hoffmann spricht von 1,5 Millionen Jobs, die durch die Digitalisierung wegfallen und von Abermillionen, die dadurch geschaffen würden. „Dort die Arbeitnehmer zu integrieren, das ist die Mammutaufgabe.“

Mit Weiterbildung soll Stellenabbau verhindert werden

Seine Botschaft an die Politik: „Qualifizieren, statt entlassen“. Konkret will die IG-Metall vom Bund ein Transformationsarbeitergeld, ein Initiativrecht für Betriebsräte auf Weiterbildung und Qualifizierungsmaßnahmen für Arbeitnehmer sowie den Ausbau einer flächendeckenden Infrastruktur für E-Mobilität. Hoffmann: „Wenn Wandel und Digitalisierung Abstieg bedeuten, dann wird die Transformation zur Bedrohung.“

Auch musikalisch wurde groß aufgefahren: Auf der Bühne standen Liveacts wie Silly, Clueso und Culcha Candela. Aus dem gesamten Bundesgebiet waren Gewerkschaftler, Betriebsräte und Beschäftigte angereist.

Arbeiter in Ost-Berlin verdienen im gleichen Betrieb weniger

Als Birgit Dietze, IG-Metall-Verantwortliche für Berlin, am Mittag auf die Bühne vor dem Brandenburger Tor tritt, weißt sie darauf hin, dass die Linie aus Kopfsteinpflaster, die die einstige Teilung der Stadt markiert, heute weiterhin in den Beschäftigungsverhältnissen der Metall- und Elektroindustrie zu finden ist. „Auf dieser Seite müssen die Leute 35 Stunden arbeiten und auf der anderen Seite 38 Stunden. Für gleichen Lohn.“ Beispiele dafür seien die Siemens- oder OTIS-Standorte im Westen wie im Osten der Hauptstadt, sagt sie der Berliner Morgenpost.

„Viele der Angestellten im Westteil der Stadt wissen gar nicht, dass ihre Kollegen im Osten drei Stunden mehr arbeiten für gleiches Geld.“

Bund soll Qualifizierung von Mitarbeitern bezahlen

Dietze weiß auch um die Probleme des industriellen Wandels, die auf ihre Mitglieder zukommen. Doch begriffen werden soll der als Chance. „Wir sind nicht die Bremser, sondern die Befürworter der Transformation. Aber wenn die Politik Klimaschutzziele festschreibt und Digitalisierung Fahrt aufnimmt, dann hat das Folgen für die Industrie.“

Im Fokus stehen die vier großen Stränge der Transformation: Digitalisierung, demografischer Wandel, Klimaveränderung und Globalisierung. Vor allem Berlin habe in den vergangenen Jahren profitiert und eine „gleichmäßige industrielle Entwicklung“ erlebt. Dietze und die IG-Metall fordern deswegen von der Politik mehr Investitionen, um die Verkehrs und Energiewende zu meistern. Zudem solle es eine staatliche Förderung geben, die vor allem kleineren Unternehmen, die die Umstellung aus eigener Kraft nicht so leicht stemmen könnten unter die Arme greife.

Die Idee: „Transformationskurzarbeitergeld“. Gedacht ist das als Unterstützung für Beschäftigte, damit diese sich weiter qualifizieren können und nicht von Entlassungen bedroht sind. Welche Beträge dazu aus öffentlicher Hand beigesteuert werden müssten, könne man aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Nur soviel: Ein Prüfauftrag dazu sei beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales bereits eingegangen.

Wie deutlich sich dieser Transformationsprozess vollzieht, musste auch Ulja Held aus Köln am eigenen Leib erfahren. „Nach 15 Jahren bei Ford hat man mich einfach zwangsversetzt.“ Die 37-jährige war in der Produktion für Dieselgetriebe tätig. Als die Sparte ausgedünnt wurde, musste Held im Ersatzteillager Platz nehmen. „Man spürt, wie groß der Druck in der Branche ist.“