Berlin. Nirit Ben-Joseph startet ihre „Jewish Tour“ an diesem Tag in der Rosenstraße in Mitte, einem zentralen, aber bei vielen Berlinern weitgehend unbekannten Ort jüdischer Geschichte, nur einen Steinwurf vom Alexanderplatz entfernt. Links neben dem Hotel Alexander Plaza befindet sich eine kleine, von Bäumen umsäumte Grünfläche mit einem steinernen Denkmal. An der Ecke vor dem Hotel steht eine Litfaßsäule, die die Geschichte dieses Ortes erzählt. An diesem warmen Sommertag sitzen vereinzelt Leute auf den schattigen Bänken, rauchen und unterhalten sich. Touristen scheinen sich nur selten in die Nebenstraße zu verlaufen.
„Was vielen nicht wissen ist, dass es bereits seit dem 12. Jahrhundert eine jüdische Gemeinde in Berlin gegeben hat, und dass sich hier die allererste Synagoge Berlins befunden hat“, sagt Nirit Ben-Joseph und deutet auf die unscheinbare Grünfläche. „1671 kamen, auf Einladung des Kurfürsten Friedrich Wilhelm – der übrigens auch die Hugenotten nach Berlin eingeladen hat –, sieben jüdische Familien nach Berlin, die vorher aus Wien hinausgeworfen wurden.“ Hier in der Rosenstraße konnten sie vierzig Jahre später ihre erste Synagoge erbauen, erklärt Ben-Joseph. „Damals verlief hier ganz in der Nähe die Stadtmauer“, sagt sie und zeigt in Richtung des Hackeschen Markts. Die Synagoge, von den Novemberpogromen weitgehend verschont, wurde 1945 vollständig zerstört.
Der Protest der Frauen von der Rosenstraße
In der Zeit des Nationalsozialismus war die Rosenstraße Schauplatz der vielleicht größten Protestaktion und gab dieser ihren Namen: „Rosenstraßenprotest“. Neben der Synagoge befand sich die Sozialverwaltung der jüdischen Gemeinde, sagt Ben-Joseph, das Gebäude wurde von den Nazis als Sammellager benutzt. Im Zuge der sogenannten „Fabrik-Aktion“ 1943 wurden hier rund 2000 Juden aus „Mischehen“ inhaftiert. „In den Tagen nach den Verhaftungen gab es in der Rosenstraße große Proteste“ erzählt Ben-Joseph: „Die vorwiegend ‚arischen‘ Ehefrauen versammelten sich und verlangten über Tage die Freilassung ihrer Ehemänner und Angehörigen, bis diese wirklich wieder freigelassen wurden“. Manche meinten, allein der mutige Protest der Frauen hätte die Freilassung bewirkt. Ben-Joseph: „Die Männer wurden aber freigelassen, weil die NSDAP keine Erlaubnis gab, Juden in Mischehen und deren Kinder zu deportieren.“ Die Freigelassenen mussten dann die Stellen der bereits deportierten Mitarbeiter der jüdischen Gemeinde antreten.
Das Denkmal „Der Block der Frauen“ aus rotem Stein von Ingeborg Hunzinger wurde 1995 eingeweiht. Bestehend aus vier Teilen, zeigt es jüdische Symbolik und verschiedene Gestalten. Ben-Joseph erklärt, dass die Frauen, die um die Freilassung ihrer Angehörigen kämpfen und die gefangenen Männer zu sehen seien.
Nirit Ben-Joseph selbst kam 1987 zum Studium aus Tel Aviv nach Berlin und bietet seit 1998 geführte Stadttouren an. „Damals kamen Verwandte aus Israel nach Berlin und ich haben ihnen die Stadt gezeigt“, erinnert sie sich. „Sie sagten, dass ich das professionell machen sollte – so gut hatte es ihnen gefallen.“ Zunächst habe sie abgewunken, schließlich kannte sie die Stadt nicht gut genug. „Dann dachte ich, dass es eigentlich keine schlechte Idee ist und habe angefangen, alles über Berlin zu lernen.“ Momentan bietet sie rund zehn Touren an, einige, aber nicht alle, mit Bezug zur jüdischen Geschichte der Stadt.
Der jüdische Friedhof ist heute wieder ein Erinnerungsort
Von der Rosenstraße geht es mit dem Auto über den Hackeschen Markt zur Großen Hamburger Straße. Bis zu sechs Stunden dauert die „Jewish Tour“ für gewöhnlich und führt von der Rosenstraße über das Holocaust-Mahnmal, das jüdische Viertel in Mitte und den Bebelplatz durch das bayerische Viertel bis zum Gleis 17 am Bahnhof Grunewald. Ben-Joseph richte sich bei den Touren nach den Wünschen der Teilnehmer, erklärt sie. Je nachdem, was nachgefragt wird, mache sie die Touren zu Fuß, im Kleinbus oder – für große Gruppen – im Reisebus.
In der Großen Hamburger Straße lag bis zu seiner Zerstörung im Jahr 1943 Berlins ältester jüdischer Friedhof und ein jüdisches Altenheim. Das Areal der Friedhofs ist heute umzäunt, das Haus verschwunden. Es wurde 1943 zerstört, nachdem es von der Gestapo als Sammellager genutzt wurde. „Ungefähr 55.000 Juden wurden von hier über den Bahnhof Moabit in die Todeslager deportiert“, sagt Ben-Joseph.
Vor dem Eingang des ehemaligen Friedhofs steht seit 1985 eine Skulptur von Will Lammert. „Fällt ihnen etwas auf?“, fragt sie. „Es sind nur Frauen und Kinder zu sehen – diese Skulptur war ursprünglich für die Gedenkstätte Ravensbrück gedacht, ein Frauenkonzentrationslager.“ Man habe wohl gerade keine andere gehabt, sagt sie ein wenig spöttisch.
Durch ein Tor im hohen Zaun, das abends verschlossen wird, kommt man auf den ehemaligen Friedhof. An einer Seite grenzt er heute an das jüdische Gymnasium, dahinter liegen die Hackeschen Höfe. „Man muss wissen, dass der Friedhof und die Bestattung im Judentum eine wichtige Rolle spielen. Der Friedhof wurde 1672 angelegt, also gleich, als die Wiener Juden nach Berlin kamen“, erklärt Ben-Joseph, „genutzt wurde er, bis es in den 1820er Jahre keinen Platz mehr gab“. Gräber nach einer bestimmten Zeit zu entfernen – undenkbar im Judentum. Umso schrecklicher ist die Zerstörung des Friedhofs durch die Gestapo 1943 gewesen: „Das war eine Schändung, eine Katastrophe! Sie legten dort Schützengräben an, und später begruben sie dort Soldaten und Zivilisten.“
Heute ist der Boden mit Efeu bewachsen, wohl auch, damit Familien im Sommer hier nicht ihre Picknickdecken ausbreiten. Vor dem Mauerfall sei dies eine Gartenanlage gewesen, sagt Ben-Joseph. „Haben Sie denn nie über die ganzen Parks in Berlin nachgedacht?“, fragt sie und erinnert sich an ein passendes Zitat aus dem Buch „Herr Moses in Berlin“ von Heinz Knobloch: „Misstraue jedem grünen Flecken in Berlin“.
Die Menschen, die sie durch die Stadt führt, seien überwiegend Touristen, sagt Ben-Joseph. Sie kämen aus der ganzen Welt, aber auch viele Deutsche seien darunter. Gerade für sie sei die Auseinandersetzung mit der Geschichte nicht einfach. „Viele Ältere waren damals Kinder und wuchsen mit diesen Leuten auf, da ist es nicht leicht, das alles zu hören“, sagt Ben-Joseph. „Aber auch sie haben oft gelitten unter den Erziehungsmethoden der Zeit und können vieles besser verstehen.“
Heute endet die Tour am Koppenplatz an einem Denkmal, das sie sehr berührt, wie Ben-Joseph erklärt. Auf der Nordseite des Platzes steht seit 1996 „Der verlassene Raum“ des Ost-Berliner Bildhauers Karl Biedermann. Wie in einem überdimensionalen Zimmer stehen dort Tisch und Stühle, der eine zur Seite umgeworfen, auf einer groben Bodenplatte, die an Parkett erinnert. In den Rand sind Verse von Nelly Sachs eingelassen. Dass es gerade die Wohnungen waren, die die Menschen ja eigentlich schützen sollten und die den Juden zum Verhängnis wurden, als sie daraus deportiert wurden, sagt Benn-Jospeh, dass treffe sie immer besonders.
Zehn Touren auf den Spuren jüdischen Lebens
Neben der „Jewish Tour“ hat Stadtführerin Nirit Ben-Joseph noch rund zehn weitere Touren im Repertoire. Darunter, passend zum 100-Jährigen Jubiläum: „Revolution und Bürgerkrieg 1918–1919“, außerdem „Albert Einstein in Berlin“, „Die doppelte Emanzipation jüdischer Frauen in Deutschland“ oder „Berlin, Hauptstadt der Spionage“. Kleine und große Fans von Erich Kästner können bei der „Emil und die Detektive“-Tour, die Schauplätze des Kinderbuchklassikers, besuchen. Für Erkundungen außerhalb der Innenstadt, bietet die Stadtführerin auch Führungen in Wannsee und Potsdam an.
Die „Jewish Tour“ startet in der Nähe des Hackeschen Marktes, der mit den S-Bahnlinien S3, S5, S7 und S9 erreichbar ist, außerdem mit den Tramlinien M1, M4, M5 und M6.
Führungen mit Nirit Ben-Joseph sind über ihre Website www.berlinführung.de oder telefonisch unter 0177/79 73 892 buchbar und werden auf Englisch, Deutsch und Hebräisch angeboten. Termin und Treffpunkt können individuell vereinbart werden.
Alle Teile der Morgenpost-Sommerserie „Stadtführungen in Berlin“