Berliner Spaziergang

VBB-Chefin: „Autoverkehr muss auch mal eingeschränkt werden“

| Lesedauer: 13 Minuten
Jochim Stoltenberg
Susanne Henkel, Geschäftsführerin des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg (VBB) am Bahnhof Zoo.

Susanne Henkel, Geschäftsführerin des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg (VBB) am Bahnhof Zoo.

Foto: Reto Klar / FUNKE Foto Services

Susanne Henckel ist Geschäftsführerin des Verkehrsverbunds Berlin-Brandenburg (VBB) - und will Autofahrer für Bus und Bahn begeistern.

Berlin. Wir treffen uns im Bikini-Hochhaus am Hardenbergplatz. Hier im 12. Stock hat Susanne Henckel ihr Büro. Blickfang ist eine silberglänzende Metallplastik in Form eines Stammes mit Geäst. Wie Laub oder Früchte hat sie an seine Enden symbolhaft metallene Signets und Wappen drapiert: Das „S“ der S-Bahn, die drei Buchstaben BVG, zwei für die Deutsche Bahn (DB), das Brandenburger Tor ebenso wie die Stadtwappen von Cottbus und Frankfurt/Oder. Eine Plastik, die im Kleinen von Großem kündet.

Susanne Henckel ist Geschäftsführerin des Verkehrsverbunds Berlin-Brandenburg (VBB). Er ist mit circa 30.000 Quadratkilometern einer der flächenmäßig größten Verkehrsverbünde in Europa. Rund vier Millionen Menschen nutzen täglich die Regionalzüge, S- und U-Bahnen, Straßenbahnen, Busse oder auch die acht Fährlinien der im VBB zusammengeschlossenen Unternehmen.

Seit vor 20 Jahren der gemeinsame VBB-Tarif eingeführt wurde, gilt die Losung: 38 Verkehrsunternehmen, zwei Länder, ein Ticket. Ein Ticket, das einen nicht zu unterschätzenden Beitrag auch zum Zusammenwachsen der Region Berlin- Brandenburg geleistet hat. Davon künden die täglich 300.000 Pendler.

Susanne Heckel: „Zu Fuß gehen ist übrigens die am stärksten unterschätzte Verkehrsart“

Wenn Susanne Henckel aus den Fenstern ihres Büro schaut, blickt sie auf das Elefanten-Gehege des Zoos oder auf den Bahnhof Zoo. Er ist, das darf man ohne zu viel Lokalpatriotismus sagen, das Herzstück im durch Stadt und Land verzweigten Liniennetz mit einer Gesamtlänge von 30.945 Kilometern.

Bevor wir unseren Spaziergang unten am Bahnhof beginnen, habe ich Susanne Henckel gefragt, mit welcher Bahn sie denn heute ihr Büro angesteuert habe. „Heute bin ich zu Fuß gekommen, weil ich vorher beim Zahnarzt war. Aber gewöhnlich komme ich mit dem Fahrrad.“ Wie bitte? „Ja, ich habe bewusst einen Wohnort gesucht, von dem aus ich nicht eine Stunde fahren muss. Also mit dem Fahrrad oder auch mal zu Fuß. Das ist ein schöner Start in den Arbeitstag. Zu Fuß gehen ist übrigens die am stärksten unterschätzte Verkehrsart. Sie passt auch gut zum öffentlichen Nahverkehr, weil man viele Bahnhöfe und Stationen fußläufig erreichen kann.“ In Brandenburg, so eine Untersuchung, erreicht jeder Zweite mit dem Fahrrad oder eben per pedes seinen Bahnhof.

Also starten wir unseren Fußmarsch. Unten am Hardenbergplatz brummt das Leben, der Verkehr. Ganz unten die U-Bahn, ebenerdig die Busse, oben S- und Regionalbahnen. Und mittendrin eilende, wartende, futternde, trinkende, dösende, auch ein paar grölende, angetrunken Gestrauchelte. Und die Bauarbeiten am Bahnhof scheinen kein Ende zu finden. „Sie dauern leider viel zu lange“, ärgert sich auch die VBB-Chefin. Und sorgt sich wie viele Berlinerinnen und Berliner um das Bahnhofs-Umfeld und damit um die Attraktivität, von der im Verlauf unseres Spaziergangs noch viel die Rede sein wird.

Fotograf Reto Klar dirigiert uns an das östliche Ende des Bahnhofs, wo Zugang und gemauertes Gewölbe saniert wurden und zum kleinen Schmuckstück geworden sind. Oben auf Gleis 4 will er die Fotos machen.

Ohne zu zögern ignoriert die 54 -jährige Susanne Henckel die Rolltreppe, erreicht leichtfüßig Stufe für Stufe den Bahnsteig ohne Anzeichen von erschwertem Atem. „Ganz schön sportlich“, entfährt es mir spontan. Lächelnd übergeht sie die Flapsigkeit und erzählt, dass sie sich mit zu Fuß gehen, Rad fahren und Sport gesund hält.

Es wird Zeit, nach den Aufgaben zu fragen, die sie und der VBB zu erfüllen haben. Aber das ist gar nicht so einfach. Weil einerseits Fotograf Klar nun kurzfristig das Kommando übernimmt, andererseits fast pausenlos S-Bahnen, Regionalzüge, Bahnen der ODEG, der Ostdeutschen Eisenbahngesellschaft, ein- und ausfahren und auch noch ein ICE durchrauscht. Dabei zeigt sich die Frau im sportlich eleganten roten Kleid und schwarzem Blazer ganz unprätentiös und lässt sich auch vom Fahrtwind, der ihre Haarpracht wieder und wieder verwirbelt, nicht aus der Ruhe bringen. Also noch einen Augenblick gedulden, bis wir wieder unten sind und uns zwischen Bahntrasse und Zoo auf den Weg in den Tiergarten machen, Ziel Schleusenkrug am Landwehrkanal.

Noch einmal die Frage nach dem Auftrag. Der liest sich im Gründungsvertrag von 1996 zwischen den Ländern Berlin und Brandenburg sowie den 14 brandenburgischen Landkreisen und vier kreisfreien Städten wie ein bürokratisches Ungeheuer: „Gegenstand der Gesellschaft ist die Förderung der nachfrage- und bedarfsgerechten Sicherung und Entwicklung der Leistungsfähigkeit und Attraktivität des öffentlichen Personennahverkehrs im Sinne des ÖPNV-Gesetzes der Länder Berlin und Brandenburg.“

Der VBB arbeitet eher unsichtbar im Hintergrund

Auch die Geschäftsführerin mit dem Sinn fürs Praktische kann über die Formulierungen nur lächeln. „Auf den Nenner gebracht: Wir führen die Regie über den öffentlichen Personennahverkehr.“ Ins Blickfeld, und dann meist auch schnell in die Kritik, gerät der VBB, wenn neue und damit meist höhere Fahrpreise anstehen. „Dabei geben wir als VBB-Geschäftsführung nur Empfehlungen. Über die endgültigen Preise entscheiden die Gesellschafter und damit die Politik. Grundsätzlich geht es immer um die richtige Balance für Fahrgäste, Verkehrsunternehmen und Gesellschafter.“

Ansonsten arbeitet der VBB für die Öffentlichkeit eher unsichtbar im Hintergrund. Hinter den drei Stichworten konzipieren, standardisieren, integrieren verbergen sich die zentralen Aufgaben. Die wichtigsten aus der ziemlich langen Liste: Einheitliche Tarife und Vertrieb für U-, S-, Regional-und Straßenbahn sowie Bus, einheitliche Fahrgastinformation, Aufteilung der Fahrgelder unter den 38 Vertriebsunternehmen, Ausschreibung, Bestellung und Vertragsmanagement für den Eisenbahn-Regionalverkehr. Und schließlich das Qualitätsmanagement.

Hört sich alles gut an. Nun, da wir im Schleusenkrug draußen noch einen freien Tisch gefunden haben und Kaffee und Kuchen vor uns stehen, steht der Praxistest an. Nach dem sind zu viele Berliner verärgert: volle Bahnen, zu wenig Komfort in den Zügen, Verspätungen bis hin zu Ausfällen, Ersatzverkehr wegen immer neuer Baustellen, verschmutzte Bahnhöfe. „Ja, wir haben Probleme. Wir müssen besser werden. Bei der S-Bahn gibt es nachweislich eine Qualitätssteigerung bei Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. Aber der DB-Regionalverkehr schwächelt seit Monaten, ODEG und Niederbarnimer Eisenbahn sind stabil. Bei der BVG gibt es eine gewisse Zuverlässigkeit, aber auch noch sehr viele Baustellen.“

„Wenn Bahnen häufiger ausfallen und oder unpünktlich sind, fehlt das Vertrauen in unser System“

Hört sich nicht so gut an. „Wir müssen ran an die Qualitätsverbesserungen. Es gibt vieles, was im VBB sehr gut funktioniert. Öffentlicher Nahverkehr muss auch Spaß machen, wenn wir mehr Menschen besonders in der Metropole zum Umsteigen vom Auto in Bahn und Bus motivieren wollen. Wenn Bahnen häufiger ausfallen und oder unpünktlich sind, fehlt das Vertrauen in unser System.“ Also drängt sie auf neue Fahrzeuge. Die für die S-Bahn kommen in zwei Jahren, die für die BVG zwei bis drei Jahre später. Auch Regionalzüge mit Klimaanlage und W-Lan sind bestellt.

Große Hoffnungen setzt sie in das Infrastrukturprojekt i.2030. „Dabei prüfen wir gemeinsam mit DB-Netz als verantwortlichem Infrastrukturbetreiber und den Ländern Berlin und Brandenburg, welche Investitionen und Innovationen in den kommenden Jahren getätigt werden sollen und Vorrang haben. Da sind vielfältige Maßnahmen für die S-Bahn und den Regionalverkehr drin, auch Streckenverlängerungen, etwa nach Nauen und Velten, Überholgleise für mehr Stabilität, die Reaktivierung der Potsdamer Stammbahn und der Siemensbahn, auch Bahnsteigverlängerungen, Ausbau des Bahnhofs Spandau, neue elektronische Leit- und Sicherungstechnik für die Bahn. Alles mit dem Ziel, schneller, zuverlässiger und attraktiver zu werden. Die Planungen laufen auf Hochtouren, aber sie brauchen eben Zeit.“

Susanne Henckel macht das ungeduldig. Leidenschaftlich redet sie über die Notwendigkeit, die Attraktivität des Nahverkehrs zu erhöhen. Bahnhöfe müssten wieder zum Treffpunkt mit Co-Working-Office und gehobenem Speiseangebot wie in Japan werden. Engere Taktzeiten sind nötig und damit ein vermehrtes Angebot. Die vorhandenen Kapazitäten sollen über für jedermann zugängliche Apps besser gemanagt werden. Klimafreundlicher muss der Nahverkehr natürlich auch werden, weniger Diesel, mehr Elektro- und Wasserstofftechnik bei Bus und Bahn. „Aber das dauert leider alles lange in Deutschland. Wir müssen bei den Planungen schneller werden. Über die Dresdner Bahn in Berlin etwa wird seit 20 Jahren geredet. Das dürfen wir uns nicht mehr leisten. Wir müssen Prioritäten setzen. Ein Planungsbeschleunigungsgesetz ist überfällig.“ Ihr Drängen und ihre Kritik dürfte nicht überall auf freundliche Akzeptanz stoßen. Sie hat übrigens keinen Dienstwagen, sondern eine Bahn-Card 100, bundesweit gültig im Fern- und Nahverkehr.

„Höhere Parkgebühren, eine City Maut oder ein Bürgerticket für alle“

Zur Bahn ist sie über ihr Studium Stadt- und Verkehrsplanung gekommen. Als Diplom-Ingenieurin hat sie zunächst für die Stadt Kassel und für freie Planungsbüros gearbeitet, dann in leitender Funktion beim Nordhessischen Verkehrsverbund. Dort hat sie mit an einer Kundengarantie gearbeitet, die Verspätungen von maximal fünf Minuten erlaubte. Danach war sie Hauptgeschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft der Aufgabenträger des SPNV, was für Schienenpersonennahverkehr steht.

Noch so ein Wortungetüm. „Schrecklich“, sagt sie ganz offen und erzählt, dass sie jetzt als Präsidentin des Verbandes einen Wettbewerb initiiert habe, „damit wir eine bessere Abkürzung für den Verband finden.“

Susanne Henckel hat noch viele Ideen, wie man die Nahverkehr attraktiver und notorische Autofahrer für den ÖPNV gewinnen kann. Die Umsetzung ist halt das Problem. Um ihren Zielen näher zu kommen, empfiehlt sie das Wirksystem „Push and Pull“. Was ist das denn? „Eigentlich ganz einfach: Das eine vorantreiben, das andere begrenzen. Das heißt konkret, der Nahverkehr muss bei allen Planungen Vorrang haben, der Autoverkehr auch mal eingeschränkt werden. Verschiedene Modelle sind denkbar. Etwa höhere Parkgebühren, eine City Maut oder ein Bürgerticket für alle. Entscheidungen darüber werden in der politischen Debatte getroffen. Aber eins ist klar: Mehr Angebote und gute Qualität kosten auch mehr Geld.“

„In Spitzenzeiten rollt alles, was rollen kann. Mehr geht zur Zeit nicht“

Einen Haken, den auch die VBB-Chefin in ihrer Offenheit und Ehrlichkeit nicht leugnet, hat die angestrebte Verkehrstransformation derzeit allerdings noch. S-, U-, Regional-Bahn und Busse sind schon jetzt überlastet. Viele zusätzliche Fahrgäste, wie von der Politik propagiert, wären mit dem derzeitigen Angebot nicht zu verkraften. „Wir fahren schon jetzt am Limit. In Spitzenzeiten rollt alles, was rollen kann. Mehr geht zur Zeit nicht.“

Eine frohe Botschaft möchte Susanne Henckel zum Schluss denn doch noch los werden. „Nach einer Untersuchung, welches Verkehrsmittel der Gesundheit am förderlichsten ist, schneidet der öffentliche Nahverkehr am besten ab. Weil unsere Kunden meist einen kurzen Fußweg zur Haltestelle zurücklegen oder Treppen steigen.“

Auf denn. Auch in der Erwartung, dass irgendwann in Berlin wahr wird, was Susanne Henckel von einem Besuch in Singapur erzählt: In der Leitstelle der U-Bahn wurde ihr von einer großen Katastrophe vor Jahresfrist berichtet. Auf ihre Nachfrage hieß es: Wir hatten zwei Mal im Jahr mehr als drei Minuten Verspätung.

Zur Person

Familie: Susanne Henckel wurde 1965 in Iserlohn im Sauerland geboren. Sie lebt heute in Wilmersdorf und hat eine 25 jährige Tochter im Studium.

Ausbildung: Nach dem Abitur hat sie an den Technischen Hochschulen in Kaiserslautern und Kassel Stadt- und Verkehrsplanung studiert, Abschluss Diplom Ingenieurin.

Karriere: Projektingenieurin bei Planungsbüros und Gebietskörperschaften. 1995 bis 2010 leitende Position beim Nordhessischen Verkehrsverbund Kassel mit Schwerpunkt Modernisierung der Schieneninfrastruktur. Wechsel als Hauptgeschäftsführerin zum Bundesverband des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV). In der Zeit auch Lehrtätigkeit an der TU Berlin. Seit März 2014 Geschäftsführerin des Verkehrsverbunds Berlin- Brandenburg (VBB).

VBB: Gegründet 1996. Bis heute Steigerung der Fahrgastzahl im Verbundgebiet von einer auf 1,5 Milliarden. Das gesamte Streckennetz (Stand 2017) ist 32.224 Kilometer lang, auf ihm verkehren 49 Regio- Linien, 16 S- Bahnlinien, 10 U-Bahn-Linien, die Straßenbahn fährt auf 47, Busse auf 908 Linien.

Spaziergang: Vom Bikini-Hochhaus am Hardenbergplatz, Bahnhof Zoo zum Schleusenkrug am Landwehrkanal und zurück.