Berlin. Fahrradaktivisten haben zum Tag der Verkehrssicherheit die Schönhauser Allee in Prenzlauer Berg besetzt.
Die Straßenbahn darf fahren auf der Schönhauser Allee. „Die Tram ist unser Verkehrsmittel“, sagt Matthias Dittmer, grüner Verkehrspolitiker und Sprecher im Verein Stadt für Menschen. Aber Autos müssen draußen bleiben an diesem Nachmittag auf der Spur stadtauswärts. Stattdessen malen Kinder mit Kreide den Asphalt bunt an oder kreuzen mit Bobby Cars herum, die Eltern trinken Kaffee auf Bierbänken. Und ein Aktivist reißt sich für jeden toten Radfahrer des vergangenen Jahres ein T-Shirt vom Leib. „Autos raus“ steht darauf oder „Abbiegeassistent für Lkw jetzt“. Man wolle „dem Senat zu Mut verhelfen, die Verkehrswende wirklich anzupacken“, ruft Dittmer in sein Mikrofon.
Vor nicht allzu langer Zeit hätte die Mehrheit der Gesellschaft die Aktivisten auf der Schönhauser Allee noch als grüne Spinner und Autohasser abgetan. Aber die Wahrnehmung hat sich verändert. Auch im Prenzlauer Berg werden die Straßenblockierer von einzelnen Passanten beschimpft. Aber die meisten befürworten die Aktion zum Tag der Verkehrssicherheit: „Es wäre schön, wenn das immer so wäre“, sagt eine Frau, die ihr Fahrrad über die Autostraße schiebt.
Weltweit haben sich große Städte auf den Weg gemacht, Autos aus den Zentren zurückzudrängen. Schon vor zehn Jahren machte New York die wichtigste Kreuzung Manhattans, den Times Square, weitgehend autofrei. Paris hat die Uferstraße am rechten Ufer der Seine zu einer Flanierzone umgestaltet. Und selbst in Sao Paulo wird jeden Sonntag die sechsspurige Hauptschlagader Avenida Paulista für Fußgänger und Radfahrer reserviert.
Leitbild der autogerechten Stadt hat ausgedient
Die Zunft der Stadtplaner hat umgedacht. Das Leitbild der autogerechten Stadt hat ausgedient. „Es vollzieht sich ein Paradigmenwechsel, der angesichts zunehmender CO2-Emissionen und einer weltweit voranschreitenden Urbanisierung unausweichlich geworden ist und einen umfassenden Stadtumbau zur Folge hat“, schreibt Steffen de Rudder, Professor für Städtebau an der Bauhaus Universität Weimar: „Parkraum wird Stadtraum, Verkehrsschneisen werden Boulevards, statt Lärmschutzfenstern werden Balkone gebaut.“
In Berlin wird nicht nur an der Schönhauser Allee am Stadtraum von morgen gearbeitet. An der Berliner Allee in Weißensee, einer der lebensfeindlichsten Verkehrsschneisen der Stadt, fordern am Sonnabend Anwohner einen Umbau der Magistrale. In Kreuzberg demonstrieren Bürger für einen autofreien Wrangelkiez unter dem Motto „Spielen, Tanzen, Flanieren – ohne Blechlawinen“. In Kreuzberg wäre das eine logische Weiterentwicklung, denn rund um die Wrangelstraße war in den 90er-Jahren eine der ersten verkehrsberuhigten Zonen der Stadt entstanden, hier gilt offiziell schon Schritttempo und die Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmer. Theoretisch.
Hintergrund: Aktionen für die Verkehrswende - selbst die Tram steht still
Unter den Linden als Fußgängerzone?
Aber nicht nur Wohnstraßen könnten sich in den nächsten Jahren auf Druck der Anwohner massiv verändern. Die vom früheren Verkehrs- und heutigen Innensenator Andreas Geisel (SPD) geborene Idee, den Boulevard Unter den Linden zur Fußgängerzone zu machen, geistert weiter durch die politische Diskussion, auch wenn es nicht sichtbar vorangeht. Selbst für Geschäftsstraßen wie Friedrich- und Tauentzienstraße erscheint es nicht mehr undenkbar, sie autofrei zu gestalten oder den Platz für Autos zumindest massiv zu beschneiden.
Während sich aber die Anrainer in Mitte gegen eine Sperrung für Autos in diesem Sommer ausgesprochen hatten, werden solche Gedankenspiele in der City-West nicht kategorisch abgelehnt. Noch sind aber vor allem die Einzelhändler skeptisch. „Wir haben keine guten Erfahrungen gemacht mit Fußgängerzonen in Berlin“, gibt Nils Busch-Petersen zu bedenken. Wenn es geeignete Konzepte gäbe, könne man darüber reden, so der Hauptgeschäftsführer des Einzelhandelsverbandes. Aber selbst die vorweihnachtliche Enge auf der Tauentzienstraße ist aus seiner Sicht kein Argument für einen Umbau: „Die Leute mögen das. Sonst wäre es nicht so voll.“ Auch Luisa Lorentz-Leder vom Centermanagement der Schönhauser Allee Arcaden kann sich für eine autofreie Allee vor der Tür nicht erwärmen. Man brauche verkehrsberuhigte Bereiche, um Aufenthaltsqualität zu schaffen, sagt sie.
Auch in der CDU findet ein Umdenken statt
Das Umdenken ist im Gange und der Wandel der politischen Ansichten zur Verkehrspolitik macht auch vor der CDU nicht Halt. Die Partei war Jahrzehnte lang die Bastion der Interessen von Autofahrern. Menschen, die das Fahrrad nicht nur für den Sonntagsausflug, sondern für den täglichen Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen nutzten, galten vielen Christdemokraten als Sonderlinge oder als linke Weltverbesserer, um deren Stimmen zu werben, sich für die Partei ohnehin nicht lohne.
Die Zeiten haben sich geändert. Seit auch Anzugträger den Weg zum Geschäftstermin auf zwei Rädern zurücklegen und seit sich Fahrradfahrer an roten Ampeln an einen „Stau“ gewöhnen mussten, vor allem aber seit dem Siegeszug der Grünen, mehren sich in der Partei die Stimmen, die ein Umdenken fordern.
Es sind Stimmen wie die von Karl-Georg Wellmann. Der einstige Bundestagsabgeordnete und langjährige Kreisvorsitzende der CDU Steglitz-Zehlendorf, mit 66 Jahren darf er als arriviert bezeichnet werden, legt den Weg in seine Anwaltskanzlei in der Regel mit dem Fahrrad zurück. Wenn er über verkehrspolitische Themen spricht, klingt der langjährige CDU-Mann fast schon wie ein Grünen-Politiker. „Städte sind für Menschen da“, sagt Wellmann. Die Stadt müsse umgestaltet werden, mit mutigen Angeboten und „Vorrang für Fahrrad und öffentlichen Personennahverkehr“. Statt die städtischen Räume mit Autos vollzustellen, müssten sie den Bürgern zurückgegeben werden. „Was Wien, Kopenhagen und New York machen, können wir auch“, sagt Wellmann. „Diese Politik wäre übrigens konservativ, im positiven Sinn.“
Ob die Berliner CDU eine Zukunft hat – in Umfragen wird sie zurzeit bei mageren 17 Prozent gehandelt – entscheide sich vor allem in der Verkehrspolitik. Bisher gehe die Diskussion aber an seiner Partei vorbei.
Jens-Holger Kirchner mischt wieder in der Verkehrsdebatte mit
In Prenzlauer Berg rund um die Schönhauser Allee ist die Union trotz aktiver Basis-Mitglieder nicht viel mehr als eine Kleinpartei. Hier dominieren Grüne und Linke. Der frühere Pankower Baustadtrat und Ex-Verkehrsstaatssekretär Jens-Holger Kirchner wird am Sonnabend in einer Talk-Runde gefragt, was er machen würde an der Schönhauser. „Auf keinen Fall warten, bis ab 2024 für sechs Jahre die Brücke über die Ringbahn saniert wird“, sagt der Politiker, der offensichtlich von seiner Krebserkrankung genesen ist und wieder in der Verkehrsdebatte mitmischt.
Auch TU-Professor Oliver Schweedes will mehr Tempo. Man müsse eigentlich nur den Autos den Parkstreifen wegnehmen, dort einen Radstreifen einrichten, und schon hätten die Fußgänger mehr Platz und Sicherheit, weil sie den bisherigen Radweg nutzen könnten. Die Tram müsse ihre Fahrgäste auf der linken Seite zum Mittelstreifen unter der Hochbahn ein- und aussteigen lassen. Lange sei es selbstverständlich gewesen, dass Autos sechs Fahrspuren belegten, so der Stadtplaner. „Jetzt hat die gerechte Neuaufteilung des Stadtraumes Priorität.“
Wie genau das aussehen soll, dürfte umstritten bleiben. Der Senat war übrigens nicht vertreten an der Schönhauser Allee. Verkehrsstaatssekretär Ingmar Streese hatte abgesagt. So verpasste er den Ruf der Aktivisten, mehr Mut zu zeigen beim Umbau der Stadt.
jof/dpa