Es ist eine typische Kreuzung: Dönerladen auf der einen, Zeitungsladen auf der anderen Ecke. Und doch ist diese Kreuzung nicht wie jede andere. Seit einem Jahr stehen an der Ecke Windscheidstraße Kantstraße in Charlottenburg täglich frische Blumen, jeden Tag werden in der Abenddämmerung Kerzen angezündet. Am Abend des 6. Juni 2018 starb hier die Studentin Johanna Hahn.
Es war ein lauer Sommerabend, die 22-Jährige war mit einem Freund unterwegs, die beiden waren auf dem Weg in ein Café. Sie schob ihr Fahrrad auf die Ampel zu, als plötzlich ein Auto auf die Kreuzung zu raste, verfolgt von der Polizei, die den Audifahrer und seine Mitfahrer zuvor bei einem Diebstahl erwischt hatte. Der silberne Audi ignorierte die rote Ampel, fuhr mit einer Geschwindigkeit von rund 160 Stundenkilometern weiter. Johanna Hahn konnte nicht mehr ausweichen. Sie starb noch an der Unfallstelle. Die Kreuzung glich noch bis in den Morgen hinein einem Trümmerfeld. Ein 18 Jahre alter Beifahrer des Angeklagten starb wenig später.
Raser fährt Johanna (22) tot: Anwalt Gregor Gysi plädiert weiterhin auf Mord
Im November begann der Prozess gegen den Autoraser, im vergangenen Februar sollte eigentlich das Urteil gesprochen worden sein. Aber der Prozess zog sich in die Länge, immer wieder neue Gutachten wurden gefordert, weitere Zeugen verhört. Erst jetzt, am heutigen Mittwoch, halten die Verteigiger ihr Plädoyer und der Angeklagte hat ein letztes Mal die Gelegenheit, sich zu äußern.
Das Urteil werde am 27. Juni verkündet, sagte der Vorsitzende Richter am inzwischen 23. Prozesstag am Mittwoch. Zuvor hatten die Verteidiger auf eine Strafe von maximal fünf Jahren Haft wegen fahrlässiger Tötung plädiert. Der 28 Jahrer alte Serbe habe in einer Kurzschlussreaktion Gas gegeben. Der Angeklagte sagte, es tue ihm "sehr, sehr leid".
Die Staatsanwalt ist mittlerweile vom Mordvorwurf abgerückt. Er fordert für den Raser wegen fahrlässiger Tötung und gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr acht Jahre und vier Monate Haft. Rechtsanwalt Gregor Gysi, dessen Tochter mit Johanna befreundet war, vertritt in dem Prozess die Familie Hahn in der Nebenklage. Der Linke-Politiker plädiert weiterhin auf Mord und eine lebenslange Gefängnisstrafe.
An der Unfallstelle steht ein Foto von Johanna zwischen Blumen und Kerzen
Susanne Hahn war bei jedem Gerichtstermin dabei, auch wenn es sie sehr aufgewühlt hat. Allein die Anklageschrift zu lesen, war für sie kaum auszuhalten, ihr wurden die letzten Sekunden im Leben ihrer Tochter in allen Details vor Augen geführt. Ebenso schwer war es, zum ersten Mal den Täter zu sehen. Als „Gefühlschaos“ beschreibt sie das, was in ihr dabei vorging. Sie empfindet nicht Hass oder Wut, aber sie weiß auch: „Wenn es diesen Menschen nicht gäbe, wäre meine Tochter noch am Leben.“
Die vielen Kerzen und Blumen erinnern an diesen tragischen Unfall. Tag für Tag. Und sie erinnern vor allem an „Hanni“, wie die Familie Johanna Hahn liebevoll nennt. Fast jeden Tag fährt die Mutter zur Unfallstelle.
Ein Jahr ohne Hanni liegt nun hinter der Familie. „Manchmal frage ich mich, wo dieses Jahr geblieben ist“, sagt Susanne Hahn, die Mutter. „Für die Menschen, für die Welt um mich herum geht das Leben weiter, muss es ja auch, aber für mich fühlt es sich an, als wäre es gestern gewesen. So nah ist das noch. Ein Teil meines Lebens ist ausgelöscht.“ Die 51-Jährige schluckt, aber sie ist gefasst, als sie das sagt. Sie schaut dabei auf ein Foto ihrer Tochter, das zwischen den Blumen und Kerzen an der Unfallstelle aufgestellt ist.
Am Unfallort ist Susanne Hahn ihrer Tochter Johanna nahe
Die Nacht davor hat es heftig geregnet, Susanne Hahn ist gekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Aber das macht sie ohnehin fast täglich. Der Ort gehört heute zu ihrem Leben, hier ist sie ihrer Tochter nahe. Es ist der letzte Ort, an dem Hanni war. Und es ist ein Ort der Begegnung geworden, an dem Susanne Hahn in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder berührende Momente erlebt hat, die ihr Kraft und Trost gegeben haben. Mit ihren zwei anderen Kindern, mit Freunden und Bekannten, mit Augenzeugen, mit Anwohnern, mit wildfremden Menschen. Zum ersten Todestag wird es eine Mahnwache und ein Konzert geben.
Erst wenige Tage ist es her, da hat sich Susanne Hahn hier mit einem älteren Mann unterhalten. Er schaute fassungslos auf die Blumen, die Kerzen, das Bild von Hanni mit in den Himmel gestreckten Armen, das Johannas Schwester und Freunde auf einen Stromkasten gesprüht haben. Sie hat ihm von ihrer Tochter erzählt, von ihrer großen Offenheit und Toleranz, von ihrem Engagement für Waisenkinder in Kenia, von ihrer Begeisterung für die Musik, von ihrer Unbeschwertheit, von den vielen Plänen, die sie am liebsten immer alle gleichzeitig umgesetzt hätte. Der Mann fing an zu weinen. Er war betroffen, obwohl er die junge Frau nie kennengelernt hatte.
Familie organisiert Mahnwache an der Unfallstelle
Man könnte es verstehen, wenn Susanne Hahn nach dem Schicksalsschlag, den sie erlebt hat, bitter geworden wäre, wenn sie von der Welt um sie herum nichts mehr wissen wollte. Vielen Betroffenen geht das so, und das ist nur allzu verständlich. Auch Susanne Hahn versteht das, aber sie sagt auch: „Wir wollen an diesem Jahrestag nicht nur an die schreckliche Tat erinnern, sondern auch unsere Dankbarkeit zum Ausdruck geben, den Menschen gegenüber, die geholfen haben, die auch immer noch jetzt da sind und sich mit kümmern, um die Blumen zum Beispiel.“
Sie und ihre beiden anderen Kinder, die Schwester und der Bruder von Johanna Hahn, wollen all diese Menschen am Todestag an der Kreuzung zusammenbringen, um gemeinsam an Hanni zu erinnern. Es wird am 6. Juni um 17.30 Uhr eine Mahnwache geben, die auch von der Berliner Verkehrsinitiative Fuss e.V. unterstützt wird. Vier Tage später, am Pfingstmontag, veranstalten sie um 16 Uhr in der Kirche am Lietzensee in der Herbartstraße ein Konzert. „Zum Gedenken an Menschen, die plötzlich aus unserer Mitte gerissen werden“, heißt es auf dem Flyer.
Die Geschwister von Johanna haben einen Verein gegründet
„Hanni hätte es nicht gefallen, wenn es nur um sie gegangen wäre“, ist die Mutter überzeugt. Und die Geschwister haben einen Verein gegründet, Lichterschatten, der Trauerbegleitung und Traumahilfe anbieten will. Die Familie hat selbst nach dem Unfall erlebt, wie allein und überfordert man in so einer Situation ist. Johannas Geschwister wollen andere Betroffene nun damit nicht allein lassen.
Das ist auch ein Anliegen von Fuss e.V.: „Oft kommt nach dem schrecklichen Ereignis auch noch bürokratischer Horror“, sagt Fuss-Sprecher Roland Stimpel. Daher fordert der Verein schon seit einiger Zeit, dass die Senatsverkehrsverwaltung eine Ombudsperson einsetzt, „eine kundige Person, die Opfer und Angehörige bei Behörden vertritt, zum Beispiel gegenüber der Polizei, bei Krankenkassen, Versicherungen und in Entschädigungsfragen.“ Noch sei da aber nichts passiert. Ende Juni soll endlich das Urteil gegen den Raser gesprochen werden.
"Als ich in den Gerichtssaal kam, hatte ich kaum noch Worte"
Im Gerichtssaal hat sie vor sich ein Foto ihrer Tochter aufgestellt. Einmal hat sie selbst vor Gericht ausgesagt. Es sollte ermittelt werden, wie groß der Schmerz ist, der ihr zugefügt wurde. Als ließe sich für den Verlust des Kindes eine Größenordnung erstellen. Die Nacht davor hatte sie nicht geschlafen, sondern einen inneren Monolog geführt, hatte ihre ganze Liebe, ihren Schmerz, ihre Erinnerungen vor ihrem inneren Ohr ausgebreitet. „Als ich dann in den Gerichtssaal kam, hatte ich kaum noch Worte“, erinnert sie sich. Ihren Schmerz hat aber wohl dennoch jeder gesehen. Es war still im Saal, als sie ein Foto von Hanni vor sich aufstellte, bevor sie zu sprechen begann. „Die ganze Zeit habe ich meine Tochter angeschaut, das hat mich gestärkt.“
Eine Lücke, die ein Urteil nicht schließen kann
Sie ist froh, wenn der Prozess nun vorbei ist. „Hauptsache, es kommt zum Abschluss, das Urteil bringt mir Hanni ja nicht zurück.“ Und auch die vielen Kerzen und Blumen an der Windscheidstraße bringen ihre Tochter nicht zurück. Aber zumindest spenden sie Trost. Daher setzt sich auch Fuss e.V. dafür ein, Angehörigen von Unfallopfern diesen Raum zu geben. „Oft wünschen sich Trauernde an der Unfallstelle einen Ort des Gedenkens. Wir dürfen nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und so tun, als sei nichts gewesen“, sagt Sprecher Roland Stimpel.
Einen Strich wird Susanne Hahn ohnehin nie ziehen können. Aber die Begegnungen an der Unfallstelle helfen ihr, mit der Lücke, die der Tod ihrer Tochter gerissen hat, zu leben.