Demonstration

Sternfahrt: 90.000 Radfahrer erobern sich Berlin

| Lesedauer: 5 Minuten
Martin Nejezchleba
Mit Komfort und Kühltaschen: Manche Teilnehmer hatten bei der Sternfahrt Berlin 2019 an alles gedacht.

Mit Komfort und Kühltaschen: Manche Teilnehmer hatten bei der Sternfahrt Berlin 2019 an alles gedacht.

Foto: Reto Klar / FUNKE Foto Services

Einmal mit dem Rad über die Autobahn fahren – das ist für viele ein Traum. Doch Demonstration und Realität sind zwei Welten.

Berlin. Der Traum beginnt mit einem Spurwechsel. Runter von der holprigen Radspur auf dem Neuköllner Gehweg, rüber auf die Karl-Marx-Straße. Glatter Asphalt. Keine Abgase. Kein Mich-Durchschlängeln. Keine Angst vor Stoßstangen. Der Daumen tastet nach der Klingel. Mein Ring-Ring verschmilzt mit dem allgegenwärtigen Freudenklingeln zu einem straßenschluchtfüllenden Rrrrrriiiiiiing. Es ist Sternfahrt der Fahrradfahrer, mal wieder. Seit 1977 findet sie statt.

Großes Sammeln an der Grenzallee, Auffahrt zur A100. Familien mit Lastenrädern und Pumuckl-Bikes, wetterfeste Rennradfahrer, filigrane Singletrack-Fahrer, Oben-Ohne-Mountainbiker. Sie strömen von links von rechts, von hinten. Tausende warten, dass ihnen die Polizei das Heiligtum des deutschen Autofahrers überlässt: die Autobahn.

Eintauchen ins Reich des motorisierten Verkehrs

Sternfahrt. Dieses alljährlichen Ritual besteht darin, dass aus aus allen Himmelsrichtungen Zehntausende Radfahrer auf insgesamt 1000 Kilometern zum Großen Stern strömen, sich nehmen, was ihnen laut Fahrradaktivisten zusteht: die Straßen ihrer Stadt. Die ersten fuhren um 1:20 Uhr nachts in Leipzig los, auf der Stadtautobahn kulminierte das Ganze, gegen 14 Uhr kreisten die Massen dann strahlend um die Goldelse.

Das Motto in diesem Jahr: „Mehr Platz fürs Rad.“ Will heißen: Die Mobilitätswende darf nicht nur politischer Wille sein, sie muss Realität werden. So sieht das Eva-Maria Scheel, die Landesvorsitzende des ADFC Berlin. Denn der Radverkehr sei erneut gestiegen, allein 2018 um neun Prozent. „Doch auf vielen Radwegen reicht der Platz nicht aus, das Wegenetz ist ein lückenhaftes Flickwerk, Radwege und Kreuzungen sind häufig nicht sicher gestaltet“, sagt Scheel. Rund 90.000 Menschen scheinen das ähnlich zu sehen. So viele zählten die Veranstalter auch diesmal bei der Sternfahrt.

„Auf vielen Radwegen reicht der Platz nicht aus“

Der Tross taucht in den Autobahntunnel ab. Tröten, Klingeln, Jauchzen füllt die dunkle Röhre. Dieses Eintauchen ins Reich des motorisierten Individualverkehrs löst bemerkenswerte Gefühle aus. Vielleicht ist es das, was passionierte Autofahrer ihre Freiheit nennen. Es geht leicht bergab, die Schnelligkeit kommt butterweich und von allein, kühler Fahrtwind streichelt das Ego. Man ahnt, wie sich mancher hier als Autofahrer verhalten würde. Da sind die, die pfeifend durchs Halbdunkel rollen. Die Nach-Vorne-Woller, die Kinderräder schneiden, drängeln. Manche filmen ihr Fahrerlebnis mit dem Handy. Andere fahren auf dem Hinterrad.

Warum sind sie hier? Frank Oberländer, dessen vierköpfige Familie zum großen Teil barfuß ist und aussieht wie eine verjüngte Version der Kelly-Family: „Wir sollten alle mehr Rücksicht aufeinander nehmen auf den Straßen.“ Maria Franceschini aus Neukölln und mit Babybauch hat vor kurzem das Familienauto verkauft. Sie sagt: Fahrradstreifen seien schön und gut. Aber was bringt das, wenn sie ständig vollgeparkt sind? Ihr Lebensgefährte Sebastian ist vor allem wegen des schönen Wetters hier. Torsten aus Schöneberg, weil er schon seit zehn Jahren mitfährt. Andrea aus Pankow, weil auch nach zehn Jahren zu wenig Platz ist für Räder.

Blechlawine bis zum Horizont

Auf der Höhe des Tempelhofer Felds ist der Traum perfekt. Leise gleiten die Sternfahrer, über dem Ex-Flughafen kreisen die Flugdrachen, zwitschern Lerchen, lautlos schwebt eine S-Bahn vorbei. Ist das schon die Zukunft? Kurz vor dem Südkreuz biegen die Sternfahrer von der Autobahn in die Gegenwart ab. Eine Blechlawine hat sich in den Sachsendamm ergossen, sie reicht Richtung Süden bis zum Horizont. An der Schöneberger Hauptstraße sitzt der 28-Jährige Bedirhan auf dem Rand seines Kofferraums. Seit einer Stunde. Eine Kreuzung weiter strömen die Sternfahrer. Die Straße wird noch eine Stunde gesperrt bleiben. Bedirhan sagt, er wisse schon: „Eigentlich macht ein Auto in Berlin keinen Sinn.“ Er fährt trotzdem gern. „Bequemlichkeit“, sagt er.

Die Gegenwart, sie gestaltet sich so: Wir haben zwar jedes Jahr mehr Radfahrer in Berlin. Aber wir haben auch jedes Jahr mehr Autos in Berlin. Fünf Prozent mehr waren es 2018. Auf Berlins Straßen wird alles mehr: Lieferverkehr, Pendelverkehr, Carsharing, Bikesharing. Hier ein Gedanke zwischen Radfahrertraum und Wirklichkeit: Wenn nach 42 Jahren ritueller Sternfahrt der Platz für alle auf den Straßen dennoch weniger wird: Vielleicht sollte man dann statt für mehr Platz für Räder für mehr Platz für alle demonstrieren. Mehr Platz in den Öffentlichen, für elektrischen, geteilten Individualverkehr.

Die Realität sieht so aus: Ab dem frühen Nachmittag gehört die Straße wieder denen, die vor allem mit dem Auto unterwegs sind. Die Polizei gibt die Autobahn wieder frei.