Berlin. Die Berliner Polizei war bei der verdeckten Informationsgewinnung zur Extremismus-Bekämpfung offenbar über Jahre schlecht aufgestellt. Ein bis Februar 2016 als Kommissariatsleiter für die Führung von Vertrauenspersonen zuständiger Beamter des Landeskriminalamtes (LKA) zeichnete am Freitag im Abgeordnetenhaus ein dramatisches Bild seiner damaligen Dienststelle. Als er die Position 2013 übernommen habe, habe es dort „keine operative Arbeit“ gegeben.
Der Zeuge wurde im Ausschuss für die Aufarbeitung des Anschlags vom Breitscheidplatz vernommen. Der Abgeordneten erwarteten sich Aufklärung über den Einsatz von Vertrauenspersonen, die mit dem Attentäter Anis Amri Kontakt gehabt haben könnten. Aussagen dazu wurden aber nur für den nicht-öffentlichen Teil der Sitzung erwartet. Für Verwunderung sorgten aber schon die Aussagen im öffentlichen Teil.
Als der Beamte 2013 Kommissariatsleiter für Informationsbeschaffung wurde, lief die Aufarbeitung der Affäre um die Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU). Den Sicherheitsbehörden wurde Versagen vorgeworfen, der Berliner Polizei Fehler und Versäumnisse bei der Führung von Vertrauenspersonen in der Neonazi-Szene. Er habe die Dienststelle neu strukturieren sollen, sagte der Zeuge. Seine Mitarbeiter seien aber vor allem damit befasst gewesen, schriftliche Anfragen zu beantworten – etwa für den NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages. Die Beantwortung habe „höchste Priorität“ gehabt. Die Folge aus Sicht des Zeugen: „Die Leute, die eigentlich auf der Straße sein sollten, die Informationen beschaffen sollten, saßen im Büro, guckten sich Akten an.“
Auf die Frage des Ausschussvorsitzenden Stephan Lenz (CDU), ob seine Dienststelle arbeitsfähig gewesen sein, sagte der Zeuge der Zeuge: „Bedingt.“ Als er das Kommissariat übernommen habe, habe es eine Art „Aufnahmestopp“ für weitere polizeiinterne Aufträge zur Informationsbeschaffung zur Aufklärung von Extremisten gegeben. Höhere Ebenen der Polizei hätten von den Engpässen gewusst, sagte der Zeuge. Die Gespräche mit den Vorgesetzten hätten aber nur wenig geholfen, „weil auch da die Decke an allen Enden zu kurz war“.
Abgeordnete reagierten verwundert auf Zeugenaussage
Abgeordnete reagierten auf die Behauptung des Zeugen, dass operative Tätigkeiten aufgrund parlamentarischer Anfragen zu kurz gekommen sei, verwundert bis gereizt. „Die Informationsweitergabe an das Parlament könnte sehr viel einfacher organisiert und besser vorbereitet werden“, sagte der Abgeordnete Benedikt Lux (Grüne). Bei Engpässen sei die Polizeiführung gefordert, sagte der SPD-Abgeordnete Tom Schreiber.
Kritik an Einschätzung der Anti-Terror-Fahnder zu Amri
Die Drogengeschäfte des Breitscheidplatz-Attentäters Amri hätten die Anti-Terror-Ermittler der Berliner Polizei nicht zu der Einschätzung veranlassen dürfen, dass von dem Tunesier keine Terror-Gefahr mehr ausgeht. Das machte die Aussage des Islamwissenschaftlers des Berliner Verfassungsschutzes, Olaf Farschid, im Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der Umstände des Breitscheidplatz-Anschlags deutlich.
Erfahrungen aus Belgien und Frankreich hätten gezeigt, dass auch Personen aus dem kleinkriminellen Milieu in die dschihadistische Szene abwandern könnten. „Das ist insofern kein überraschendes Phänomen“, sagte Farschid.
Amris Observation endete ein halbes Jahr vor dem Anschlag
Die Anti-Terror-Dienststellen des Landeskriminalamtes (LKA) der Berliner Polizei hatten Amri bereits ab Anfang 2016 als „Gefährder“ geführt. Im Frühling und im Sommer 2016 wurde er observiert. Die Observation wurde aber Mitte Juli beendet, Mitte September endete auch die Überwachung seiner Telekommunikation.
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LKA-Chef Christian Steiof, hatte die Beendigung der Maßnahmen in einer Sitzung des Innenausschusses des Abgeordnetenhauses wenige Wochen nach dem Anschlag damit begründet, dass Amri zunehmend als Drogendealer auffällig geworden sei. Daher habe man angenommen, dass von ihm eine geringere Anschlagsgefahr ausgeht.
Schnittmengen zwischen Kleinkriminellen und Dschihadisten
Die Aussage des Islamwissenschaftlers Farschid ließ Steiofs damalige Einschätzung in einem zweifelhaftem Licht erscheinen. Zwischen Kleinkriminellen und Mitgliedern der Dschihadisten-Szene gebe es „Schnittmengen“. Illegale Aktivitäten würden von dschihadistischen Theoretikern als „Mittel zum Zwecke“ gerechtfertigt.
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Auf die Frage, ob er selbst einen Salafisten, der zunehmend kleinkriminelle Aktivitäten entwickele, als weniger gefährlich einstufen würde, sagte Farschid: „Ich würde nichts ausschließen.“
LKA-Leiter korrigierte ursprüngliche Einschätzung
LKA-Chef Steiof hatte seine in den Wochen nach dem Anschlag vorgetragene Einschätzung später korrigiert. Aus Amris Dealer-Aktivitäten auf eine geringere Gefährlichkeit zu schließen, sei „einer der großen Fehler“ gewesen, sagte Steiof bei seiner Vernehmung im Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhaus im November vergangenen Jahres.