Wegberg-Wildenrath/Berlin. Kein lautes Aufjaulen, kein nerviges Brummen, nur ein leises Surren ist zu hören, als der Zug kräftig beschleunigt. Das soll eine Berliner S-Bahn sein? Kaum zu glauben. Doch die in Europa einmalige Wagenlackierung in knalligem Rot und hellem Gelb lässt keine Zweifel zu. Hier steht die nächste Generation der Hauptstadt-Schnellbahn.
Zu sehen und zu hören ist diese aktuell aber nicht in der Stadt selbst, sondern mehr als 600 Kilometer von Berlin entfernt, in Wegberg-Wildenrath (Nordrhein-Westfalen). In dem kleinen Ort kurz vor der holländischen Grenze befindet sich das Prüf- und Validationcenter von Siemens Mobility, der Verkehrssparte des Großkonzerns.
Es gilt als Europas modernstes Testgelände für Schienenfahrzeuge. Auf einem einstigen Flugplatz der Briten haben die Techniker zwei Schienenringe aufgebaut, der eine ist 2,5 Kilometer, der andere 6,1 Kilometer lang. „Das ist wie eine Modell-Eisenbahn, nur in groß“, beschreibt Siemens-Sprecherin Ellen Schramke die Anlage, auf der Züge aus aller Welt erprobt werden. Zu sehen sind hier nicht nur zahlreiche Wagen der neuesten ICE-Generation, sondern auch Triebwagenzüge anderer Hersteller.
Zahl der S-Bahn-Wagen stagniert seit Jahren
Siemens und Stadler haben an diesem Tag Journalisten aus ganz Europa nach Wegberg-Wildenrath eingeladen, um auf dem Testring ihr Gemeinschaftsprojekt für den Berliner Nahverkehr zu präsentieren. Der Druck ist groß. In der Hauptstadt warten Verkehrspolitiker wie Fahrgäste händeringend auf die neuen S-Bahnen. Immer mehr Zuzügler in die Stadt, immer mehr Pendler aus dem Umland, aber auch ein sich änderndes Umweltbewusstsein sorgen dafür, dass Busse und Bahnen in der Stadt voller werden.
Gerade erst haben die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) und S-Bahn neue Fahrgastrekorde verkündet. Die zur bundeseigenen Deutschen Bahn gehörende S-Bahn Berlin beförderte im Vorjahr 478 Millionen Reisende, gut ein Fünftel mehr als bei der vorherigen großen Fahrgastzählung im Jahr 2012. Die Zahl der Wagen liegt allerdings seit mehr als zehn Jahren konstant bei 1300, fast jeder vierte davon ist bereits 30 Jahre alt oder älter. Ersatz und möglichst ein paar zusätzliche Fahrzeuge sind dringend nötig.
Auftrag in Höhe von 900 Millionen Euro
Das sollen nun Stadler und Siemens schaffen. Die beiden Traditionsfirmen im Schienenfahrzeugbau hatten sich zusammengetan und konnten 2015 einen der größten Aufträge im deutschen Nahverkehr gewinnen. Im Orderbuch steht die Lieferung von 382 neuen S-Bahnwagen nach Berlin. 85 Fahrzeuge werden dabei als Vierteiler, 21 weitere als zweiteilige Einheiten gebaut. Vergeben wurde der mit rund 900 Millionen Euro bezifferte Auftrag von der S-Bahn Berlin GmbH.
Die Bahn-Tochter betreibt das gesamte Berliner S-Bahnsystem seit 1995. Als der Berliner Senat 2012 erstmals einen Teil des S-Bahnnetzes, die Ringbahnlinien, ausschrieb, konnte die S-Bahn trotz anfänglicher privater Konkurrenz (etwa National Express aus Großbritannien) diesen Auftrag für sich gewinnen. Damit einher ging auch die Bestellung der neuen S-Bahnen. Nur eine Woche nach der Vergabe des Teilnetzes Ring kurz vor Weihnachten 2015 ging auch die Fahrzeugbestellung raus.
Verzögerung wegen intensiver Erprobung
Doch warum dauert es solange, bis die neuen Züge im Berliner S-Bahnverkehr tatsächlich zum Einsatz kommen? Eine Antwort auf diese Frage ist auch in Wegberg-Wildenrath zu finden. Dort ist auch S-Bahnchef Peter Buchner, und der sagt: „Wir wollen keine grünen Bananen, die erst beim Kunden reifen. Wir wollen unseren Fahrgästen ab 2021 ein Fahrzeug präsentieren, dass sie von Anfang an zuverlässig, schnell und bequem an ihr Ziel bringt.“
Aus diesem Grund sehen die Verträge mit Stadler und Siemens zunächst den Bau von zehn Vorserienfahrzeugen vor, die zwei Jahre lang intensiv erprobt werden sollen. Die Prototypen, je fünf vier- beziehungsweise zweiteilige Züge, sind inzwischen gebaut. Fünf von ihnen befinden sich aktuell in Wegberg-Wildenrath.
Neue Züge fahren hörbar leiser
Für die Berliner S-Bahn ist dabei der kleine, 2,5 Kilometer lange Gleisring reserviert. Der „Bahnsteig“ am Testring besteht auf einen zusammengezimmerten Holzpodest, von dem aus die Techniker und am Tag der Pressepräsentation auch die Gäste in die haltende S-Bahn einsteigen können. Der Testzug steht bereits zur Abfahrt bereit. Er trägt die Fahrzeugnummer 484 002, er ist also erst das zweite Fahrzeug der nagelneuen S-Bahn-Baureihe 484.
Der erste Eindruck ist überzeugend. Die Bahn fährt hörbar leiser als alle ihre Vorgänger. „Innen wie außen haben wir strenge Akustik-Vorgaben vom Besteller, die wir auch alle einhalten“, sagt Stadler-Geschäftsführer Jure Mikolčić. Erreicht werde dies mit einer deutlich verbesserten Dämmung der Antriebsmotoren. Viel bringen würden auch die neuen Faltenbälge zwischen den Wagenübergängen. Sie sind nun doppelt ausgeführt, zudem ist die Kupplung zusätzlich abgeschirmt. Dadurch gelangen deutlich weniger Geräusche in den Fahrgastraum.
Mehr Raumhöhe, breitere Türen
Für mehr Fahrkomfort sollen zudem eine Luftfederung und die erstmalig in eine Berliner S-Bahn eingebaute Klimaanlage sorgen. Ein weiterer bereits sichtbarer Pluspunkt des Newcomers: die neue Geräumigkeit im Wageninneren. Die Inneraum-Höhe ist von bislang 2,15 auf bis zu 2,30 Meter gewachsen. „Gerade, wenn es einmal eng im Wagen ist, bringt es den Fahrgästen ein anderes Raumgefühl“, so Stadler-Projektleiter Jochen Lenz. Auch die Türdurchlässe sind breiter als beim Vorgänger. Das soll den Fahrgästen das Ein- und Aussteigen erleichtern.
Für Gerald Winzer, Leiter Projektentwicklung bei Siemens, sind die aktuellen Fahrten auf dem Testring von großem Nutzen. „Wir können hier auch mal an die Grenzen gehen. Wenn mal ein Zug liegenbleibt, wird nicht gleich der gesamte S-Bahn-Betrieb gestört.“ Insgesamt 160.000 Test-Kilometer müssen die Vorserienfahrzeuge insgesamt zurücklegen, bevor sie mit echten Fahrgästen fahren dürfen.
„Der Zeitplan ist angespannt“
Bislang, so versichern die Verantwortlichen der Hersteller übereinstimmend, laufen alle Test- und Zulassungsprozesse planmäßig. Im September 2020 sollen die ersten Fahrzeuge an die S-Bahn übergeben werden. Dort ist man etwas vorsichtiger. „Der Zeitplan bis zur Fahrzeugzulassung und -übergabe an die die S-Bahn ist inzwischen angespannt“, heißt es im gerade veröffentlichten Jahresabschluss für 2018. Eine pünktliche Betriebsaufnahme am 1. Januar 2021 sei aus heutiger Sicht „dennoch realistisch“.