Berlin. RTL hat undercover im Vivantes Klinikum Spandau recherchiert - mit schockierendem Ergebnis. Vivantes weist die Vorwürfe zurück.

Am Montagabend strahlte RTL eine neue Folge der Dokureihe „Team Wallraff - Reporter undercover aus“. Thema diesmal: die Zustände in psychiatrischen Einrichtungen in Deutschland. Nach Angaben des Enthüllungsjournalisten Günter Wallraff und seines Teams sei man Hinweisen von ehemaligen Patienten und Zuschauern nachgegangen und habe über ein Jahr undercover recherchiert, um „zum Teil haarsträubende Missstände bei der Betreuung und Behandlung von Bewohnern aufzudecken“.

Insgesamt vier psychiatrische Einrichtungen standen im Fokus der Journalisten - darunter auch das Vivantes Klinikum in Berlin-Spandau. Wie RTL in einer Pressemitteilung von Montag schreibt, habe sich RTL-Reporter Torsten Misler dort undercover als Praktikant beworben. Ohne Vorstellungsgespräch habe er auf der Akutstation der Einrichtung anfangen können. Die Zustände, die er dort vorfand, hätten schlimmste Befürchtungen übertroffen. Sowohl für Patienten als auch für Pflegekräfte sei die Situation teilweise desaströs.

Das Vivantes Klinikum bezog auf Morgenpost-Nachfrage Stellung zu dem Thema. Eine Sprecherin erklärte: „Der hier vom „Team Wallraff“ beabsichtigte Eindruck ist falsch. Der Bewerbungsprozess für ein Praktikum ist innerhalb der Vivantes nicht einheitlich. Herr Torsten Misler hatte sich ganz normal unter dem Namen Daniel Maik Hartwig mit einem ausführlichen Lebenslauf und allen notwendigen Angaben schriftlich beworben. Es gab regen E-Mail-Verkehr und keinen Grund, an den Angaben zu zweifeln.“ Er habe sich ordnungsgemäß vorgestellt und sei bei Dienstantritt belehrt und auf das ärztliche Patientengeheimnis verpflichtet worden. „Wie wir erst jetzt aufgrund der Sendung erfahren haben, hat Herr Misler offenbar Angaben seiner Mitarbeiter bei der Produktionsgesellschaft, die er als Geschäftsführer in Leipzig führt, in täuschender Absicht verwendet.“

Kranke müssen auf dem Flur schlafen

Der Reporter wurde nach Angaben von RTL Zeuge, wie einem Patienten Medikamente ins Essen gemischt worden seien, obwohl dies nicht erlaubt ist. Eine andere Patientin sei in die Irre geführt worden und habe ein Medikament verabreicht bekommen, das sie nicht wollte. Es habe sich um Tavor gehandelt, ein Beruhigungsmittel, das abhängig machen kann. Wie die Klinikleitung bekräftigt, würden Medikamente aber nur „mit informierter Einwilligung an Patienten abgegeben“.

„Wir können an dieser Stelle zu dem Beispiel leider nur allgemein antworten, da uns nicht bekannt ist, dass Pflegepersonal einem Patienten heimlich oder unerlaubt Medikamente ins Essen mischt“, äußerte sich die Vivantes-Sprecherin weiter zu den Vorwürfen.

Enthüllungsjournalist Günter Wallraff (Archivbild)
Enthüllungsjournalist Günter Wallraff (Archivbild) © dpa | Oliver Berg

Problem Überbelegung

Als weiteren Missstand stellte der RTL-Reporter eine Überbelegung fest. In einigen Vierbettzimmern seien fünf Patienten untergebracht. Manche Kranke müssten gar im Flur schlafen. In einer Stellungnahme schreibt Vivantes dazu: „Die meisten Aufnahmen (...) erfolgen als Notfälle über die Rettungsstelle. Somit kommt es (...) immer wieder zu erheblichen Schwankungen in der Belegung.“

Laut der Sprecherin seien Akutstationen eines kommunalen Krankenhauses – unabhängig von ihrer Auslastung – aber zur Aufnahme von Patienten verpflichtet. „Trotz des ständigen Ausbaus der Kapazitäten kann es daher immer wieder zu Überbelegungen kommen. Das aber ist ein berlinweit bekanntes Problem, das diese Art von übergriffiger Recherche nicht gestattet.“

Auch das Pflegepersonal sei nach Recherchen des „Team Wallraff“ von den Zuständen betroffen. Die Angestellten beklagten Personalmangel und Überlastung sowie Übergriffe durch Patienten.

Das Vivantes Klinikum bestätigte der Berliner Morgenpost den Personalmangel. „Die Personalknappheit in der Pflege im Gesundheitsbereich betrifft auch die Pflege im Bereich der Psychiatrien. Vivantes unternimmt erhebliche Anstrengungen, um weiteres Personal zu gewinnen. Dazu gehört auch, Interessierten ein berufsvorbereitendes Praktikum zu ermöglichen – normalerweise handelt es sich dabei aber nicht um Fernsehjournalisten, die diese Offenheit lediglich ausnutzen, um im geschützten Bereich einer geschlossenen Station heimliche Aufnahmen zu machen und die Intimsphäre und Patientengeheimnisse zu verletzen“, so die Sprecherin weiter.

„In ein Wespennest gestochen“

Laut Pressemitteilung von RTL habe das „Team Wallraff“ mit dem Thema Psychiatrie „in ein Wespennest“ gestochen. Nie zuvor sei die Redaktion im Vorfeld einer Sendung mit so vielen Abmahnungen und anderen juristischen Androhungen überzogen worden, um die Ausstrahlung der Sendung zu verhindern. Bis Montagmittag habe die Rechtsabteilung von RTL 26 Eingaben auf dem Tisch gehabt. Auch Berlins landeseigene Klinikkette Vivantes soll nach Informationen des „Tagesspiegel“ versucht haben, rechtlich gegen die Ausstrahlung vorzugehen.

Die Annahme, Vivantes sei rechtlich gegen den Sender vorgegangen, dementierte die Sprecherin. „Vivantes hat gegen die Ausstrahlung keine gerichtlichen Schritte eingeleitet. Mitarbeiterinnen, Mitarbeitern sowie Patientinnen und Patienten, die gegen ihren Willen von der über Wochen andauernden Überwachung durch heimliche Aufnahmen und dem Bruch des Patientengeheimnisses betroffen waren, wurden lediglich Rechtsberatung angeboten.“ Mehrere Dutzend Mitarbeiter*innen und Patient*innen hätten davon Gebrauch gemacht und würden gegen die Verantwortlichen rechtlich vorgehen, „da diese jegliche Auskünfte verweigern, obwohl hier Straftaten gem. §§ 201, 201a, 203 StGB vorliegen. Viele Betroffene empfinden diese „Recherche“ als unerlaubte Überwachung und Verletzung ihrer Rechte. In einem Fall ist deswegen auch schon eine gerichtliche Verfügung gegen den vorgeblichen Praktikanten erlassen worden.“

Aufarbeitung konkreter Einzelfälle

Darüber hinaus betonte Vivantes in einer eigenen Stellungnahme, umgehend mit der Aufarbeitung der konkreten Einzelfälle begonnen zu haben. Diese stellten sich bei genauerer Betrachtung zum Teil völlig anders dar, als in der Berichterstattung von RTL suggeriert werde. Die Sprecherin erklärt weiter: „Leider hat es das „Team Wallraff“ versäumt, die in dem Filmbeitrag vorgeführten Mitarbeiter und Patienten um Erlaubnis für die Aufnahmen zu fragen und legt auch nachträglich keine Erklärungen vor, die es uns erlauben würden, uns ohne Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht zu den konkret gezeigten Vorgängen öffentlich zu erklären. Diese Form der Berichterstattung dient vielleicht der Berichterstattung, trägt aber nicht zur Aufklärung und Verbesserung der Situation von Betroffenen bei.“