Berlin. Der Senat feiert die Musik-Szene in Berlin. Gleichzeitig erschweren unwillige Verwaltungen und Regulierungswut Veranstaltern das Leben.
„Wir können bald ein Ortsschild aufstellen, da steht dann ‚Berlin – Hauptstadt‘, und darunter: ‚Bitte leise‘.“ Sascha Disselkamp hat sich warm geredet. Irgendjemand muss ja laut werden, wenn Berlin immer leiser sein soll. Dabei ist es der Sound, der Berlin einzigartig macht: die Karaoke-Shows im Mauerpark, die Fête de la Musique, die Konzerte unter freiem Himmel in der Zitadelle Spandau, Kiezfeste mit Drehorgelmann oder die ausschweifenden Freiluftpartys am Ufer der Spree.
Berlin findet auf der Straße statt, nicht hinter verschlossenen Türen. Das machte die Stadt weltbekannt – „und das ist in Gefahr“, sagt Disselkamp. Der 55-Jährige ist ein Berliner Veranstalter-Urgestein, betreibt den „Sage Club“ in Kreuzberg und mehrere Restaurants. Er ist mit dieser Meinung nicht allein.
Kommentar: Berlin muss Berlin bleiben
Seit Jahren gerät die Club- und Kulturszene in der Innenstadt in Bedrängnis. Einige Probleme sind lange bekannt: Freiräume sind kostbar, die Mieten steigen, und wo mehr Menschen auf engem Raum leben, gibt es Lärmklagen. Im vergangenen Jahr schlossen deshalb Institutionen des Nachtlebens wie das „Rosies“ an der Revaler Straße.
Seit Anfang März beschäftigte die Debatte um das beliebte Karaoke im Mauerpark die Stadt: Die Show, die seit zehn Jahren sonntags stattfindet, sollte keine Genehmigung vom Bezirk erhalten. Grund: angeblich eine Baustelle. Tausende Menschen unterzeichneten eine Petition, die Show zu erhalten, Politiker setzten sich ein. Da ging es plötzlich doch. Doch steht die Genehmigung des Umweltamtes noch aus – ist es den Verwaltungsleuten zu laut, ist das Karaoke weiter in Gefahr. Der Fall ist symptomatisch.
Investoren sollen für Schallschutz sorgen
Muss, wer die Musik hochdrehen will, bald in den Partykeller hinabsteigen?
Denn viele weitere Clubs und Feste, ob es das Kirchenfest in Zehlendorf ist oder das familiäre Kiezfest in Spandau, sind bedroht. Clubs und Veranstalter haben einen neuen Feind: Senat und Bezirke zeigen eine Regulierungswut, die genauso zerstörerisch wirken könnte wie die Verdrängung. Immer häufiger werden Genehmigungen für Freiluftveranstaltungen von den Bezirken nur noch kurz vorher oder unter strengen Auflagen erteilt.
Ausgerechnet unter einem rot-rot-grünen Senat, der sich als Verteidiger der Kultur- und Partyszene gibt, sind Verordnungen in Arbeit, die für kleinere Veranstalter das Ende bedeuten könnten. Berliner Clubbetreiber, Veranstalter und Politiker stellen sich die Frage: Droht ein Berliner Biedermeier? Muss, wer die Musik hochdrehen will, bald in den Partykeller hinabsteigen?

Mitte Februar. Im Neuköllner Club „SchwuZ“ findet der Jahresempfang der Clubcommission e.V. statt, der Vertretung von über 200 Berliner Clubs. Es wird mit Sekt angestoßen, der Bass wummert in den alten Hallen der Kindl-Brauerei.
Kultursenator Klaus Lederer (Linke) ist da und Wirtschaftsstaatssekretär Christian Rickerts. Lederer sagt zu solchen Anlässen Sätze wie: „Berlin lebt von seiner sehr breiten, kreativen Kulturlandschaft – gerade dieses Angebot ist es, was Berlin zu einem solchen Anziehungspunkt macht.“ Wolle man den Ruf Berlins nicht riskieren, dürfe man die Clubs nicht verlieren. Seine Botschaft lautet: Ihr seid uns wichtig.
Die 280 Clubs bescheren Berlin 1,5 Milliarden Euro im Jahr
An diesem Abend wird auch eine Studie vorgestellt, die die Bedeutung des Nachtlebens bestätigt: Die über 280 Clubs und Veranstalter bescheren Berlin 1,5 Milliarden Euro im Jahr. Drei Millionen Touristen kommen nach Berlin, um zu feiern. Nicht immer zur Freude der Anwohner, klar. Aber die Studie ergab auch: Die Clubs sind voll, weil die Berliner in ihnen feiern – 70 Prozent der Gäste kommen aus Berlin und Brandenburg. Allerhand Grund zum Anstoßen.
Die Spielverderberin für den Senat gibt an diesem Abend – in Abwesenheit – Umweltsenatorin Regine Günther (parteilos, für Grüne). Ihre Verwaltungsjuristen planen eine Verordnung, die so biedere Auswirkungen haben könnte, wie ihr Name verspricht: „VeranstLärmVo“. Das bedeutet Veranstaltungslärmverordnung. Feiern im Freien, die über fünf Stunden dauern, sollen strengeren Lärmschutzauflagen unterliegen. Mit der Verordnung vertraute Personen nennen sie „Lex Lollapalooza“ wegen des gleichnamigen Festivals. Bei der Zulassung von Musikveranstaltungen müsste künftig besonders die Wirkung „tieffrequenter Geräusche“ zu berücksichtigen sein – also Bässe. Kurz: Berlin soll leiser werden, die Genehmigungspraxis rigider.
Nur wenige Tage später wird bekannt: Auch die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung arbeitet an einer Verordnung, die das Zeug dazu hat, jede mittelgroße Feier in die Illegalität zu verbannen. Der Plan: Jede Veranstaltung mit mehr als 200 Besuchern, ob Hochzeit, 75. Geburtstag oder Techno-Rave, muss künftig „rechtzeitig“ bei der Baubehörde des zuständigen Bezirks angezeigt werden. Es geht um den Brandschutz. Die Befürchtung: „Diese neuen Verordnungen sind ein Einfallstor für noch mehr Regulierungen, noch mehr Papierkram – das ist weder für die Veranstalter noch für die Verwaltungen zu schaffen“, sagt Pamela Schobeß, Vorsitzende der Clubcommission.
Viele Lärmbeschwerden bei Festival Lollapalooza
Allerdings führen auch die Vertreter der Gegenseite gewichtige Gründe an, die für die neuen Verordnungen sprechen. Während des Musikfestivals Lollapalooza am Olympiastadion hatten sich die Lärmbeschwerden der Anwohner gestapelt. Dem will man in den Bezirken und in der Umweltverwaltung vorbeugen. Eine Stadt besteht schließlich nicht nur aus Partygängern. Und je mehr Menschen auf engem Raum leben, desto mehr Rücksicht müssen sie aufeinander nehmen. So begründet auch die Umweltverwaltung ihre Lärmschutz-Verordnung: „Ziel ist ein verbesserter Lärmschutz für Berlinerinnen und Berliner bei Veranstaltungen im Freien mit Dauerbeschallung insbesondere im Tieffrequenzbereich“, teilt ein Sprecher der Umweltverwaltung mit. Es heißt, es gäbe immer mehr Freiluftfeiern in Berlin, immer mehr Lärmbelästigung durch Bässe.

Belege dafür finden sich kaum. Clubs und Feiern im Freien sind für nur etwa fünf Prozent der Lärmbeschwerden verantwortlich, das geht aus Senatszahlen hervor. In Gebieten, die schwer vom Partylärm betroffen sind, sind die Clubvertreter allerdings selbst aktiv geworden: Auf der Lohmühleninsel in Kreuzberg mit ihren vielen Clubs wurde beispielsweise eine Art Nachtwächter installiert, an den sich Anwohner bei Beschwerden wenden können. Der Holzhammer, mit einer Verordnung die ganze Stadt leiser zu machen, bringe dagegen wenig, sagen die Clubvertreter.
Weniger als die Hälfte der nicht kommerziellen Musik- und Partyveranstaltungen unter freiem Himmel genehmigt
Sie haben damit die bürgerliche Opposition auf ihrer Seite – vormals nicht unbedingt als Advokaten des Nachtlebens bekannt. Christian Goiny, clubpolitischer Sprecher der CDU, ist verwundert über die Regulierungswut des Senats. „Ich finde das absurd“, sagt er. „Wir diskutieren immer wieder Entbürokratisierung, beklagen uns, dass Mitarbeiter zu viel zu tun haben und hier werden Vorschriften geschaffen, die unnütz sind und Mehraufwand schaffen.“
Wolle Berlin eine echte Musik-Stadt bleiben, müssten Bürokratieungetüme wie „VeranstLärmVo“ und die neue Brandschutzverordnung gestoppt werden. Denn schon jetzt werden laut einer Studie aus 2018 nur wenige Veranstaltungen genehmigt. Stadtforscherin Mary Dellenbaugh fand heraus, dass 2018 weniger als die Hälfte der nicht kommerziellen Musik- und Partyveranstaltungen unter freiem Himmel genehmigt wurden. Ein Grund: die schon jetzt komplexe Genehmigungspraxis.
Fragt man die Spandauerin Lucie Friede, wie sich die Zusammenarbeit mit der Verwaltung verändert hat, holt sie erst mal tief Luft. „Wo soll ich anfangen?“, fragt sie. Die Barbesitzerin organisiert seit sieben Jahren das Wilhelmstadtfest in Spandau. Ein Familienfest, mit Live-Bands, Bratwurst, Hüpfburg. Bezirkspolitiker waren damals auf sie zugekommen, sie solle etwas tun, den Kiez zu beleben. „Wir waren außerdem die Ersten, die die Fête de la Musique nach Spandau geholt haben“, erzählt Friede.
Bis zu 1000 Menschen kommen seitdem jeden Sommer in die Wilhelmstadt, der ganze Kiez macht mit. Friedes Problem: die Genehmigungen zu bekommen, wird immer schwerer, das Umweltamt stellt sich quer. Grund ist der Lärmschutz. „2018 haben wir das Okay erst zwei Tage vor der Veranstaltung bekommen.“ Bis dahin waren Tausende Euro und unzählige Stunden investiert. Zwar kam die Genehmigung kurzfristig doch, aber unter strengen Auflagen: Bis maximal 70 Dezibel durften sie aufdrehen – das entspricht dem Lärmpegel eines Staubsaugers und ist, sagt Friede, kaum einzuhalten: „Nachts brettern hier Lastwagen über die Straße – selbst die sind lauter.“
„Wenn wir bei Veranstaltungen in Zukunft um 20 Uhr den Stecker ziehen müssen, dann versteht das niemand“
Es gab trotzdem Beschwerden von Nachbarn. Genau zwei. Dem Umweltamt reichte das, um den Veranstaltern des Kiezfests Bußgeldbescheide über 5000 Euro auszustellen. Seit Monaten denken sie deshalb darüber nach, in welcher Form sie in diesem Sommer das Fest ausrichten können. Auch ans Aufgeben haben sie gedacht. Andererseits: Dazu sei das Fest zu wichtig für die Wilhelmstadt. Aber genervt ist Friede schon. „Veranstaltungen wie unsere werden zunehmend durch die Hintertür ausgetrocknet“, sagt Friede.
Die Veranstalter sind besorgt. Um ihre eigene Zukunft und den Ruf der Stadt, als Ort der Freiräume. Sie warnen, dass auch kleine rechtliche Änderungen, zu großen Auswirkungen führen können. Sascha Disselkamp etwa, Lautsprecher der Clubszene, führt nicht nur den Sage-Club, sondern organisiert jährlich mehrere Open Airs. Er sagt: „Wenn wir bei Veranstaltungen in Zukunft um 20 Uhr den Stecker ziehen müssen, dann versteht das niemand – das würde ich auch nicht machen. Dann gibt es diese Veranstaltungen nicht mehr.“ Schon jetzt werde nur eine gewisse Zahl von Partys genehmigt, das verstehe er. Man müsse Rücksicht nehmen auf die Anwohner. „Aber wenn die Beschwerden von fünf Leuten zu solcher Überregulierung führen, ist das nicht nachvollziehbar.“
Hinter den Kulissen streiten Kulturpolitiker mit Umweltpolitikern
Allerdings scheint die Lage nicht aussichtslos für die Clubs. Sie haben Fürsprecher. In der Berliner Landespolitik herrscht deshalb reichlich Gesprächsbedarf. Hinter den Kulissen streiten Kulturpolitiker mit Umweltpolitikern. Bezirksstadträte mit Landespolitikern. Abgeordnete gegen Verwaltungsbeamte. Kultursenator Klaus Lederer etwa sagte zu, gegen die neuen Verordnungen intervenieren zu wollen. „Ich habe mich in dieser Sache an meine Kollegin Regine Günther gewandt und darum gebeten, mit der Clubcommission in einen Austausch einzutreten.“
Grundsätzlich bestehe Einigkeit im Senat über die Bedeutung der Clubkultur, so Lederer. Grundsätzlich. Allerdings blieben „Reibungen, Widersprüche und Konflikte nicht aus“, erklärt der Senator. Auch Georg Kössler, clubpolitischer Sprecher der Grünen, will sich für die Belange der Clubs einsetzen. „Wir sorgen gerade für Frust in der Stadt – die Brandschutz- und auch die Lärmschutzverordnung sind gut gemeint, schaffen aber mehr Bürokratie und Kollateralschäden.“ Beide wissen, dass ihre potenziellen Wähler es schätzen, wenn in der Stadt nicht um acht die Bordsteine hochgeklappt werden.
Lederer, Kössler oder CDU-Mann Goiny wollen die Clubs vor den Mühlen der Verwaltung schützen – vor noch mehr Papierkram und die kleineren Veranstalter vor dem Ende. Pamela Schobeß, die Clubcommission-Vorsitzende, will deshalb nicht jammern. Nachdem sich Lederer und andere eingeschaltet hatten, bietet die Umweltverwaltung nun ein klärendes Gespräch an. Die Clubs dürfen ihre Sorgen dort vortragen. Immerhin. Der Konflikt mit der Bauverwaltung schwelt indes weiter. Was sich Schobeß wünscht: „Wir müssen in Zukunft noch mehr kommunizieren – Clubs, Politik und Anwohner.“ Sonst sei Berlin irgendwann totreguliert. Und der berühmte Sound der Stadt könnte verstummen.