Terrorismus

Gefahr durch Dschihadisten in Berliner Gefängnissen

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Eine Mauer der Justizvollzugsanstalt in Berlin-Tegel. Berliner Schwerverbrecher werden in der Regel in dieses Gefängnis eingeliefert – ebenso gewaltbereite Islamisten.

Eine Mauer der Justizvollzugsanstalt in Berlin-Tegel. Berliner Schwerverbrecher werden in der Regel in dieses Gefängnis eingeliefert – ebenso gewaltbereite Islamisten.

Foto: imago/Schöning

Die Zahl der Dschihadisten, die in Deutschland und Berlin im Gefängnis sitzen, wird steigen. Sie könnten Mitgefangene radikalisieren.

Berlin. Der Fall sorgte bundesweit für Entsetzen: Ein erst zwölfjähriger Junge hatte im Dezember 2016 einen Sprengsatz auf dem Weihnachtsmarkt von Ludwigshafen deponiert. Sein Ziel: Er wollte möglichst viele „Ungläubige“ töten.

Zwei Jahre später stellten sich die Hintergründe des letztlich erfolglosen Anschlagsplans heraus. Sie nährten Zweifel an der Funktionsfähigkeit der deutschen Sicherheitsarchitektur. Denn der Kinder-Islamist war ausgerechnet von einem Insassen der Justizvollzugsanstalt (JVA) in Berlin-Tegel inspiriert worden.

Mohamed A., so der Name des Straffangenen, hatte bereits zuvor Aufsehen erregt. Hinter Gittern und in der Obhut des States war es ihm wiederholt gelungen, mit einem eingeschmuggelten Handy per Facebook Dschihadisten-Propaganda zu verbreiten.

Spätere Terroristen radikalisierten sich immer wieder erst im Gefängnis

Gewaltbereite Islamisten, die aus ihrer Zelle heraus Mitgefangene oder sogar Islamisten außerhalb der Gefängnismauern radikalisieren: Neu ist dieses Phänomen nicht. Omar Abdel Hamid El-Hussein etwa, der Attentäter des Anschlages von Kopenhagen im Jahr 2015, war zunächst wegen illegalen Waffenbesitzes, Einbrüchen, Drogen und Gewalttaten verurteilt worden. Zum islamistischen Terroristen entwickelte sich der damals 22-Jährige aber erst in er Haft.

Die Folge zeigte sich zwei Wochen nach seiner Entlassung. Der Däne eröffnete das Feuer auf ein Kulturzentrum in der Kopenhagener Innenstadt. Ein Besucher starb, drei Polizisten trugen schwere Verletzungen davon.

Auch Amedy Coulibaly, der ebenfalls 2015 am Tag des Anschlags auf Mitarbeiter der französischen Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo in Paris vier Besucher eines jüdischen Supermarktes ermordete, war zunächst „nur“ als Kleinkrimineller aufgefallen. Erst hinter Gittern schloss er sich einer Zelle gewaltbereiter Islamisten an – und wurde zum Attentäter.

Die Mordgedanken des Attentäters von Toulouse, Mohamed Merah, reiften ebenfalls im Strafvollzug. Und auch Anis Amri, der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, radikalisierte sich wohl erst in einer sizilianischen Haftanstalt unter dem Einfluss eines Mitgefangenen.

Macht Knast Terroristen?

Knast macht Männer. So lautet eine Parole aus dem Milieu krimineller Familien-Clans. Aber macht Knast auch Terroristen?

Die Gefahr ist zumindest gestiegen – und sie dürfte weiter zunehmen. Denn in den vergangenen Jahren wurden immer mehr Islamisten wegen terroristischer Umtriebe inhaftiert.

Noch 2014 befanden sich in den den Berliner Gefängnissen gerade mal drei Strafgefangene, die wegen Mitgliedschaft oder Unterstützung einer Terrororganisation (Strafgesetzbuch §129 a und b) oder der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (§89) verurteilt wurden. Im Herbst vergangenen Jahres waren es bereits 13. Hinzu kommen mindestens drei weitere Islamisten, die in der JVA Moabit zurzeit in Untersuchungshaft sitzen. Der Vorwurf: Sie sollen versucht haben, in die dschihadistischen Kampfgebiete in Syrien auszureisen.

Weitere Gefangene wurden zwar nicht wegen Terrortaten verurteilt. Die Justiz bescheinigt ihnen aber dennoch eine radikal-islamistische Gesinnung. 2015 zählten die Behörden noch noch 25 solcher ideologisierte Gefangener. Im vergangenen Jahr waren es bereits 37.

Terrorismus-Experten warnen vor Netzwerkbildung

Die gute Nachricht: Anschläge können diese Dschihadisten aus ihrer Zelle heraus nicht verüben. „Je mehr Islamisten sich in den Gefängnissen tummeln, desto größer ist aber die Gefahr, dass sie ihre Zellennachbarn indoktrinieren und Netzwerke bilden“, warnt der Terrorismus-Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Guido Steinberg.

In Frankreich oder Großbritannien seien islamistische Radikalisierungen im Gefängnis schon seit etlichen Jahren ein großes Thema. „Wir sehen aber auch hier seit einigen Jahren deutliche Warnzeichen“, sagt Steinberg.

Der Bremer Islamist René Marc S. habe im Gefängnis schon vor vielen Jahren Zellengenossen radikalisiert. Mindestens einer von ihnen, der Bremer Harry S., reiste später als selbst ernannter „Gotteskrieger“ nach Syrien, um die Terrormiliz des sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) zu unterstützen.

Auch Prediger sind inhaftiert

Mittlerweile seien in Deutschland auch islamistische Prediger inhaftiert worden, sagt Steinberg. In der Szene genössen sie große Anerkennung. Umso größer sei die Gefahr, dass sie Mitgefangene indoktrinieren könnten.

Das Ende der Inhaftierungswelle ist längst nicht erreicht. Denn in den vergangenen Jahren reisten laut Bundesamt für Verfassungsschutz 1050 Anhänger der Dschihadisten-Szene aus Deutschland in die Kampfgebiete des IS. Etwa ein Drittel von ihnen ist wieder zurück in Deutschland.

Der Generalbundesanwalt erhob – nicht nur, aber auch in Folge der Rückreisewelle – allein in den vergangenen drei Jahren in 94 Fällen Anklage – meist wegen des Verdachts der Unterstützung oder Mitgliedschaft einer Terrororganisation. 67 Angeklagte wurden verurteilt, viele zu langjährigen Haftstrafen. Etliche Verfahren laufen noch.

Mindestens 60 deutsche Dschihadisten sind in Syrien gefangen

Der Bundesnachrichtendienst geht zudem davon aus, dass mindestens 60 deutsche Dschihadisten, vielleicht sogar mehr als hundert, in improvisierten Gefängnissen kurdischer Milizen in Syrien festsitzen. Nach Informationen der Berliner Morgenpost sind darunter mindestens fünf Berliner. Auch sie dürften früher oder später nach Deutschland zurückkommen – und wahrscheinlich vor Gericht – und später im Gefängnis landen.

Aus dem Umfeld der Sicherheitsbehörden ist zu hören, dass unter den in Syrien Gefangenen vor allem Frauen und Kinder sind. Es gibt aber auch Dschihadisten wie Fared S.. Vor einigen Jahren inszenierte sich der Bonner in Syrien als unerschrockener Gotteskrieger – inmitten von Leichenbergen. Nun ist er in Gefangenschaft kurdischer Truppen.

Ein ARD-Team konnte ihn dort kürzlich interviewen. Fared S. behauptete in dem Gespräch, dass er seine Taten bereue. Deutscher Ermittler sehen darin nicht mehr als den Versuch, schon jetzt auf eine mildere Strafe hinzuarbeiten.

Für Anti-Terror-Fahnder sind Dschihadisten wie Fared S. ein Alptraum. Einige der in Syrien gefangenen Deutschen sei möglicherweise desillusioniert. Andere seien von der Gewalt abgestumpft, hoch ideologisiert – und bereit, jederzeit auch in Deutschland, einen Anschlag zu verüben.

US-Präsident Trump fordert die Rücknahme von Dschihadisten

US-Präsident Donald Trump forderte erst kürzlich per Twitter-Meldung, dass die europäischen Herkunftsländer ihre Dschihadisten wieder zurücknehmen müssten. Die Bundesregierung wird dem internationalen Druck wahrscheinlich eher früher als später nachgeben müssen. Die deutschen „Gotteskrieger“ aus Syrien: Sie werden vermutlich schon bald wieder deutschen Boden betreten – und etliche werden vermutlich bald hinter Gittern sitzen.

Werden einheimische Dschihadisten und Syrien-Rückkehrer hinter Gittern Netzwerke bilden und Mitgefangene radikalisieren? Thomas Mücke will das verhindern. Mehr noch. Der Leiter des Deradikalisierungsnetzwerks Violence Prevention Network (VPN) ist angetreten, um Gefangene, die die Jagd auf „kuffar“ (Ungläubige) für eine der bestmöglichen Formen des Gottesdienstes halten, davon zu überzeugen, dass ein friedliches Miteinander der Menschen und Religionen nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert ist – und sogar im Sinne Gottes.

VPN ist einer der größten Vereine des wachsenden Bereichs der Präventions- und Deradikalisierungsarbeit. Im vergangenen Jahr betreuten die Mitarbeiter des Vereins im Bereich Islamismus bundesweit rund 300 Klienten. Gut 60 davon sitzen zurzeit eine Haftstrafe ab.

Deradikalisierungsnetzwerk hat „gut aufgebaute Strukturen“

Die Chancen, selbst hart gesottene Islamisten wieder zu integrieren, stünden gut, sagt Mücke. Allein in Berlin sei VPN mit rund 20 Mitarbeitern aktiv. „Wir haben mittlerweile gut aufgebaute Strukturen“, sagt Mücke. Im Strafvollzug seien Islamisten zudem gut ansprechbar. „Ich habe im Gefängnis bisher keinen Fall erlebt, bei dem unser Gesprächsangebot abgelehnt worden ist.“

Wichtig sei es, eine Vertrauensbasis aufzubauen und die Islamisten zum eigenen Nachdenken anzuregen. Nur dann hätten Salafisten die Chance, die Ideologie zu hinterfragen.

Wichtigstes Ziel sei es, Gewalttaten zu verhindern. Experten nennen das Demobilisierung. In einem zweiten Schritt gehe es darum, die Klienten aus der Szene herauszulösen und ihr Denken von der salafistischen Ideologie zu befreien. „Die kritischste Phase ist, wenn sie entlassen werden“, sagt Mücke. Ohne festen Job oder Ausbildung fehle die soziale Perspektive. Die salafistische Erzählung, dass die deutsche Gesellschaft „die Muslime“ gar nicht wollten, falle dann wieder auf fruchtbaren Boden. „Dann besteht die Gefahr, dass sich die Betroffenen erneut radikalisieren“, sagt Mücke.

Ehemaliger Linksterrorist betreut jetzt Salafisten in Haft

Bernhard Falk wäre das das vermutlich recht. 1968 geboren wurde er 1999 als Mitglied der linksextremistischen „Antiimperialistischen Zellen“ zu einer 13-jährigen Haftstrafe wegen vierfachen Mordversuchs verurteilt. Noch im Gefängnis konvertierte er zum Islam und fand eine neue Heimat in der Salafisten-Szene. Auf seiner Facebook-Seite hat er den Spruch gepostet: „Jeder Muslim hat das Recht in einem islamischen Staat zu leben, in dem die Scharia herrscht.“

Auch Bernhard Falk kümmert sich um Angeklagte und Gefangene, die der Staat als islamistische Terroristen verfolgt. Mehr als hundert Muslime würde er betreuen, berichtet er im persönlichen Gespräch. Gerade erst war er bei der Prozesseröffnung gegen zwei mutmaßliche IS-Rückkehrer, die sich vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main verantworten müssen.

Regelmäßiger Besucher ist Falk auch bei Terrorprozessen im Hochsicherheitssaal des Kammergerichts in Berlin-Moabit. Auch zu Deutschen, die als einstige IS-Mitglieder jetzt in einem Gefangenen-Lager in Syrien festgehalten werden, habe er Kontakt, sagt Falk. „Sie werden Anwälte benötigen“, sagt er. „Da komme ich ins Spiel.“

Ausreise nach Syrien sei „honorige Sache“

Nach Syrien auszureisen, um das Regime des syrischen Diktators Bashar al-Assad zu stürzen, nennt Falk „eine honorige Sache“. Die Gräueltaten islamistischer Terrororganisationen erwähnt er im persönlichen Gespräch nicht.

Ist die Angst, dass einer der Syrien-Rückkehrer in Deutschland einen Terroranschlag verüben könnte, berechtigt? Bernhard Falk: „Wenn man nicht daran arbeitet, dass die Spannungen in dieser Gesellschaft abnehmen, wird man sich vor Aktionen tatsächlich fürchten müssen.“

Äußerungen, die rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen könnten, vermeidet Falk. Er könne verstehen, dass der Staat Deradikalisierungsprojekte unterstütze. Der Staat wolle „bestimmte Tendenzen, die er nicht möchte“ natürlich eindämmen. Er selbst wolle aber, dass seine Glaubensbrüder ihre „persönliche Integrität“ bewahrten. „Ich versuche natürlich schon, die Gefangenen als muslimische Person zu stärken“, sagt Falk. Weiter wagt er sich nicht vor.

JVA-Bedienstete kritisieren fehlendes Personal

Thomas Mücke glaubt, den Kampf gegen salafistische „Sozialarbeiter“ wie Bernhard Falk gewinnen zu können. Andere sind skeptischer. Zum Beispiel Thomas Goiny, der Vorsitzende des Berliner Bundes der Strafvollzugsbediensteten (BSBD). „Um uns mit diesen Menschen intensiv auseinanderzusetzen, fehlt und schlicht das Personal“, sagt Goiny.

Islamisten seien, etwa anhand ihrer Kleidung, längst nicht mehr als solche erkennbar. Radikalisierungsprozesse könnten nur spezialisierte und gut geschulte Bedienstete bemerken. „Ansonsten fallen sie gar nicht auf“, sagt Goiny. Die Sicherheitsabteilungen der Anstalten seien „völlig unterbesetzt“.

Die Justizverwaltung hält dagegen – und verweist auf „spezifische Fortbildungen für die Bediensteten“. Die gebe es tatsächlich, sagt auch der BSBD-Chef Goiny. Es seien aber viel zu wenige.

Ein Blick auf die Zahlen gibt Goiny recht. So gab es laut Justizverwaltung im vergangenen Jahr für die Bediensteten der Berliner Vollzugsanstalten zum Thema Islam und Extremismus gerade mal zwei Seminare. Die Teilnahme war freiwillig. Hinzu kamen „Inhouse-Schulungen“. Im vergangenen Jahr waren es ebenfalls gerade mal zwei Veranstaltungen.

VPN und andere Träger zur Deradikalisierung bieten im Auftrag der Justizverwaltung darüber hinaus Multiplikatorenschulungen an. Immerhin: Im vergangenen Jahr waren es 14. Im laufenden Jahr sind dagegen nur noch sieben geplant. Diese Schulungen erreichen nur sehr wenige Vollzugsbedienstete. Sie sollen ihr erworbenes Wissen an ihre Kollegen weitertragen.

Die Statistik ist lückenhaft


Wie viele Gefangene, die zunächst keine Verbindungen in die Szene hatten, sich erst im Gefängnis zu radikalen Islamisten wandelten, wird laut Justizverwaltung nicht statistisch erfasst. Der Staat weiß also gar nicht, wie oft es Islamisten gelingt, ihre Zellenbrüder zu indoktrinieren. Dass es solche Fälle gibt, ist klar. Die Namen dieser Gefangenen finden sich zwar offenbar nicht in Berichten der Justizverwaltung – wohl aber in Ermittlungsdokumenten der Anti-Terror-Abteilungen der Polizei.

Zum Beispiel der Fall Feysel H.. Der Berliner wurde zunächst wegen versuchen Totschlags inhaftiert. In der JVA Tegel wandelte er sich dann zum radikalen Islamisten.

„Die Radikalisierung ist demnach über einen bereits wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland verurteilten Mithäftling erfolgt“, heißt es in einem Vermerk des Landeskriminalamtes vom Januar 2016. Gegenüber Mitgefangenen brüstete er sich damit, während eines Freigangs eine „spektakuläre Straftat“ begehen zu wollen, heißt es in dem Vermerk. Feysel H. habe eine „Wesensveränderung“ vollzogen.

Ein V-Mann berichtete

Ihre Erkenntnisse verdankten die Anti-Terror-Fahnder einem im Gefängnis platzierten V-Mann. Ohne diesen Zuträger wäre ihnen die Radikalisierung des Mannes, der nach seiner Entlassung zum Weggefährten des Breitscheidplatz-Attentäters Anis Amri wurde, vermutlich entgangen.

Hinkt der der Staat bei seinen Bemühungen zur Deradikalisierung von Gefangenen also hinterher?

Der Blick auf einige Zahlen gibt Anlass zur Sorge: Denn laut Justizverwaltung betreute das Netzwerk freier Träger zur Deradikalisierung, zu dem auch das VPN-Team von Thomas Mücke gehört, im August vergangenen Jahres in Berlin gerade mal sieben Gefangene in einem „Einzeltraining“. Zur Erinnerung: Zurzeit sitzen in den Berliner Haftanstalten 13 Gefangene, die wegen Terrortaten verurteilt wurden. 37 weitere wurden wegen anderer Delikte verurteilt. Die Justizverwaltung bescheinigte ihnen aber ebenfalls eine dschihadistisch-islamistische Gesinnung.

Nicht alle profitieren von den Maßnahmen

Das heißt: 42 Gefangene, die als Islamisten kategorisiert wurden, durchlaufen zurzeit kein „Einzeltraining“ zur Deradikalisierung. Werden die Gefängnisse zur Brutstätte für Dschihadisten? Die Berliner Justizverwaltung beschwichtigt. Das „quantitative Ausmaß“ radikal-islamischer Gefangener sei noch überschaubar, eine ausreichende Überwachung zu gewährleisten. Prognosen, wie viele Inhaftierungen für die nahe Zukunft zu erwarten sind, will die Verwaltung nicht stellen.