Friedenau. Michael Rudolph, Leiter der Friedenauer Friedrich-Bergius-Schule, gründete ein Schul- und Stadtteilmuseum - um Identität zu entwickeln.

Der nostalgische Plattenspieler der Marke „His Master’s Voice“ in einem Mahagoni-Holzschränkchen hat es Finn besonders angetan. Der 15 Jahre alte Schüler ist beeindruckt von dem Wunder der einst revolutionären Technik. Um den Player in Gang zu setzen, muss erst die feine Nadel in den metallenen Tonträger gesetzt, die Schellackplatte aufgelegt und die Kurbel am Gehäuse gedreht werden. 78 Umdrehungen in der Minute schafft der mechanisch betriebene Plattenspieler. Das Ergebnis ist eine erstaunliche Klangstärke.

Solche Stofffarben und Bierkrüge gab es früher in den Haushalten.
Solche Stofffarben und Bierkrüge gab es früher in den Haushalten. © Anikka Bauer | Anikka Bauer

Auch Asude (14), mag von allen, in den vergangenen Jahren im Stadtteilmuseum Friedenau zusammengetragenen Ausstellungsstücken, den Plattenspieler am liebsten. „Er ist aus einem so schönen alten Holz“, schwärmt sie. Ein fast über 100 Jahre altes Musikgerät als Faszinosum. Und das in Zeiten, in denen die Beats per Knopfdruck vom Handy oder Computer kommen und sich Songs in Sekundenschnelle herunterladen lassen.

Die beiden Schüler Finn und Asude sind im Museum nicht etwa zu Besuch, es ist Teil ihrer Schule. Gegründet hat das Schul- und Stadtteilmuseum Friedenau Michael Rudolph, Direktor der Friedrich-Bergius-Schule. In den vergangenen gut acht Jahren entstand die beeindruckende Sammlung mit mehreren tausend Objekten: Medaillen, Kriegsorden, historische Kameras, alte Radios, Fotoapparate und etwa 2000 historische Ansichtskarten aus der Kaiserzeit.

Eintauchen in eine längst vergangene Welt

Seit anderthalb Jahren arbeiten Asude und Finn in der von der Schule angebotenen Arbeitsgemeinschaft „Junge Historiker“ mit. Einmal die Woche, donnerstags nach dem Unterricht, trifft sich die Gruppe – fünf Mädchen und fünf Jungen in dem wohnlich eingerichteten Museums-Raum im Erdgeschoss. Hinter der grün gestrichenen Tür mit der Nummer neun tauchen die Schüler ein in eine längst vergangene Welt, die mit ihrer Lebenswirklichkeit so gut wie nichts mehr zu tun hat.

Michael Rudolph mit dem Lieblingstück der Schüler, einem Plattenspieler.
Michael Rudolph mit dem Lieblingstück der Schüler, einem Plattenspieler. © Anikka Bauer | Anikka Bauer

Sie schreiben keine Postkarten mehr und versenden ihre Urlaubsgrüße übers Handy. Die im Museum ausgestellte Kamera – mit der damals neuesten Schlitzverschluss-Technik der Optischen Anstalt C.P. Goerz aus Friedenau – produzierte Lichtbilder, die von den Kunden noch im Laden abgeholt wurden.

Die Glasvitrinen um den antiken Tisch in der Mitte des Raums sind gefüllt mit Dingen, die eine Geschichte erzählen. Viele Friedenauer haben ihre alten Schätze vorbeigebracht, vieles hat Schulleiter Michael Rudolph angekauft. Das Geld dafür kommt aus dem Etat der Schule und aus Spenden. Warum ein Museum in einer modernen Schule? Dieses Modell gibt es deutschlandweit wohl kein zweites Mal.

„Die Beschäftigung mit Gegenständen aus der Vergangenheit ist wichtig, um ein Heimatgefühl entwickeln zu können“, sagt Schulleiter Rudolph. „Wir haben an der Friedrich-Bergius-Schule viele Schüler, die ihre Wurzeln nicht in Berlin und schon gar nicht in Friedenau haben.“ Etwa zwei Drittel der Schüler haben einen Migrationshintergrund. Man könne nur das wertschätzen, womit man sich befasst habe, betont Rudolph.

Die Schüler begeben sich auch auf Spurensuche

„Die Schüler sehen ihre Umgebung mit anderen Augen, wenn sie wissen: In dem Haus hat mal ein interessanter Mensch gewohnt“, sagt er. „Es ist wichtig, die Geschichte seines Landes zu kennen, und unsere deutsche Geschichte ist keine einfache“, so der Schulleiter. Das Interesse fange im Kleinen an, es müsse nicht immer mit der ganz großen Geschichte beginnen. „Ich gucke mir meine Umgebung an, was hat sich hier ereignet und dann weite ich den Blick nach außen“, so Rudolph.

Dieser Sarotti-Teller gehört  zu den Ausstellungsstücken.
Dieser Sarotti-Teller gehört zu den Ausstellungsstücken. © Anikka Bauer | Anikka Bauer

Die Friedrich-Bergius-Schule am Friedenauer Perelsplatz macht vieles anders als andere Schulen. Rudolph, der als strengster Rektor der Hauptstadt gilt, hält nicht nur viel von klaren Regeln und Leistung. Er sucht zusammen mit dem Kollegium auch Wege, die Schüler fürs Lernen zu begeistern. Und weil die Auseinandersetzung mit der Historie in der Arbeitsgemeinschaft auf so großes Interesse stößt, will er ab dem kommenden Schuljahr Geschichte an der Sekundarschule ohne Oberstufe als fünftes Wahlpflichtfach einführen.

Die Schüler gehen auch selbst auf Spurensuche. Vor sieben Jahren war eine Gruppe im brandenburgischen Mittenwalde und sah sich auf einer Müllkippe um, wo während der Kaiserzeit Berliner Müll abgeladen wurde. Die Schüler hatten zuvor bereits recherchiert: Der Abfall wurde seinerzeit mit Handkarren und Pferdfuhrwerken abgeholt und auf zentralen Müllplätzen gesammelt. Transportiert wurde er unter anderem über den Nottekanal zum sumpfigen Schöneicher Plan, wo er dann verteilt wurde. Er vermischte sich mit dem sumpfigen Boden, sodass schließlich Schichten von etwa drei bis acht Meter entstanden.

Mundwasser Odol - von einem Berliner entwickelt

Die „Jungen Historiker“ der Bergius-Schule entdeckten an der Oberfläche Teile von Schalen, zerbrochene Bodenfliesen, Flaschenreste, Verschlüsse und selbst Schuhsohlenteile. Einiges davon ist heute in den Vitrinen des Schul- und Stadtteilmuseums zu sehen. Über ihre gewonnenen Erkenntnisse verfassen die Schüler regelmäßig Berichte im Gazette-Verbrauchermagazin.

„Um 1900 lag das durchschnittliche Müllaufkommen in Berlin pro Einwohner und Tag bei etwa 0,5 Kilogramm“, heißt es in ihrem Artikel über die historische Müll-Spurensuche. Das Zitat entnahmen sie dem Buch „Berliner Gold“ über die Geschichte der Müllbeseitigung in Berlin von Maria Curter. Inzwischen liege das Müllaufkommen, so die Schüler, pro Kopf und Tag bei rund 1,7 Kilogramm, mit steigender Tendenz.

Zuletzt beschäftigten sich die „Jungen Historiker“ mit einem Klassiker: dem Mundwasser Odol, das Karl-August Lingner erfand. Der 1861 in Magdeburg geborene und 1916 in Berlin gestorbene Unternehmer entwickelte die berühmte Seitenhalsflasche. Auch sie ist im Schulmuseum zu finden.

Wer Rudolph folgt, merkt schnell, dass die Geschichte nicht nur in Raum neun untergebracht ist. „Die ganze Schule ist ein Museum“, sagt er mit Stolz und deutet auf die vielen Urkunden, Fotos und Dokumente, die an den Wänden der Flure und im Haupttreppenhaus des 1901 bis 1902 erbauten Gebäudes angebracht sind. Und wo bleibt die Moderne? Die Laptop-Klasse ist schon älter als das Stadtteilmuseum – seit 2009 arbeiten die Schüler im Unterricht mit eigenem Laptop.

Schul- und Stadtteil-Museum, Perelsplatz 6-9, Tel. 902 77 79 10. Öffnungszeiten außerhalb der Schulferien nach Anmeldung Mo.-Do., 9 bis 13 Uhr sowie zum Tag des offenen Denkmals und zum Tag der offenen Tür.

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