Berlin. Dieter Puhl war Anfang des Jahres gleich zwei Mal in den Schlagzeilen. Erst hat ihn die Jury der Berliner Morgenpost für seine Verdienste als Leiter der Bahnhofsmission am Zoo zum Berliner des Jahres gewählt. Dann kam die Nachricht: Dieter Puhl hört auf – zumindest bei der Bahnhofsmission. Er bleibt aber der Stadtmission erhalten und leitet künftig gemeinsam mit Mathias Hamann die neu geschaffene Stabsstelle „Christliche und gesellschaftliche Verantwortung“. Wir haben mit Dieter Puhl über seinen beruflichen Wechsel gesprochen.
Herr Puhl, herzlichen Glückwunsch - was haben Sie mitgenommen an den neuen Schreibtisch? Und wo steht er?
Dieter Puhl: Mein neuer Schreibtisch steht gleich nebenan – in den Räumen des neuen Zentrums am Zoo neben der Bahnhofsmission an der Jebensstraße. Das Zentrum soll im Herbst eröffnen, demnächst ist Baubeginn. Deswegen werden meine Kollegen und ich vorübergehend noch einmal umziehen, also packe ich meine drei Kartons gar nicht aus.
Was wird für Sie anders?
Ich hoffe, dass ich mehr Zeit habe. Für die Menschen, auch für mich. Wenn ich als Leiter der Bahnhofsmission mit zehn Menschen am Tag intensiv spreche und auch noch ein paar andere Dinge mache, vom Urlaubsplan bis zum Mitarbeitergespräch – dann sind da noch 50 andere, für die ich keine Zeit habe.
Gehen Sie mit Wehmut?
Einerseits ja, natürlich. Andererseits bin ich ja, glaube ich, sozusagen der Typ „Lucien Favre“. Der ist immer dann gut, wenn er eine neue Mannschaft übernimmt, kann gut aufrütteln und neuen Antrieb geben. Aber danach – nun ja. Ich glaube, ich habe die Bahnhofsmission sozusagen auch gut wach gerüttelt. Aber inzwischen ist die Einrichtung so groß und vielfältig, dass ihre Leitung andere oder zusätzliche Talente erfordert. Ich bin sicher, dass mein Nachfolger Willi Nadolny diese Herausforderungen sehr souverän meistern wird. Er hat bisher ohnehin schon viele Aufgaben erfolgreich übernommen.
Wie kam es zu Ihrem Wechsel?
Ich bin jetzt 61, seit 26 Jahren bei der Stadtmission. Angefangen habe ich in der Wohnhilfe am Chamissoplatz, habe dann mehrfach neue Aufgaben übernommen. Nach zehn Jahren in der Bahnhofsmission ist es gut, noch einmal etwas anderes zu machen. Aber es ging auch darum, welche Aufgaben ich in meinem Alter noch übernehmen kann und will. Denn ich habe einen guten Arbeitgeber, der auch nach altersgerechtem Arbeiten fragt. Insofern bin ich froh, wenn meine Tage nicht mehr so lang sind – manchmal von 5 Uhr früh bis abends. Wenn ich jetzt abends zu einem Bürgerforum oder einem Treffen mit Politikern gehe, fange ich mit der Arbeit einfach erst nachmittags an...
Die Bahnhofsmission am Zoo ist unter Ihrer Leitung in den vergangenen zehn Jahren zu einer wichtigen Anlaufstelle für ganz unterschiedliche Menschen geworden. Was hat sich verändert?
Als ich dort anfing, kämpften wir mit großen Geldsorgen. Die Bahnhofsmission sollte nachts schließen, Personal abgebaut werden. Dabei gab es damals nur acht hauptamtliche Mitarbeiter, inzwischen sind es 23, Ende dieses Jahres sogar 30. Dazu haben wir 210 Ehrenamtliche – und mittlerweile zum Glück einen eigenen Mitarbeiter, der sie koordiniert. Sie sind eine tolle Gruppe, tolle Helfer, aber eben auch 210 Menschen, die koordiniert werden müssen, denen man Zeit widmen muss.
Die Aufgaben sind Dank Ihres Kampfes für neue Angebote der Stadtmission mehr geworden.
Heute haben wir neben den klassischen Aufgaben der Bahnhofsmission das Hygienecenter und als weiteres Projekt die mobilen Einzelfallhelfer. Sie kümmern sich längerfristig um einzelne obdachlose Menschen mit komplexen Problemen. Und unsere finanzielle Situation ist heute zum Glück so, dass wir sogar über weitere Projekte nachdenken können. Das liegt an der besseren Wirtschaftslage, aber auch daran, dass die Politik sich des Problems bewusster geworden ist, das ja weiter zunimmt.
Wie haben sich die Zahlen entwickelt? Und wen trifft Obdachlosigkeit heute?
In Berlin leben schätzungsweise zwischen 4000 und 6000 Menschen auf der Straße und es werden mehr. Vor zehn Jahren hatten wir etwa 400 Gäste am Tag, heute sind es zwischen 600 und 700. Darunter sind immer mehr ältere Rentner, die zwar eine Wohnung haben aber zu uns kommen, weil sie kein Geld fürs Essen haben. Es sind mehr Menschen aus Osteuropa darunter. Immer mehr, die im Rollstuhl sitzen. Auch der Anteil der psychisch erkrankten Menschen, die auf der Straße leben, hat erschreckend zugenommen.
Woran liegt die Zunahme?
Zum einen sind das ganz klar Folgen der Einsparungen bei Krankenkassen und im sozialen Bereich. Früher hatten Krankenhäuser Sozialdienste, heute werden Patienten krank auf die Straße entlassen. Die Verweildauer psychisch erkrankter Menschen in Kliniken ist viel zu kurz, viele werden gar nicht stationär aufgenommen. Dazu kommt die Wohnungsknappheit, die dazu führt, dass einerseits mehr Menschen ihre Wohnung verlieren und es andererseits immer schwerer wird, für Menschen Wohnungen zu finden, die einmal obdachlos geworden sind.
Viele Gäste der Bahnhofsmission haben in Deutschland keinen Anspruch auf Unterstützung. Die Bahnhofsmission schickt jedoch niemanden weg, warum?
Ja, das gehört sozusagen zu unserer Aufgabenbeschreibung. Es steht im Evangelium, wie wir mit Flüchtlingen und den Zukurzgekommenen der Gesellschaft umgehen sollen. Darüber muss ich glücklicherweise auch mit niemandem diskutieren.
Sie leiten nun die neue Stabsstelle der Stadtmission: „Christliche und gesellschaftliche Verantwortung“. Was heißt das konkret?
Das Schöne an der Stadtmission ist ja, dass wir viele Freiheiten haben, wie wir unsere Aufgaben erfüllen. Insofern denke ich, es wird niemand böse sein, wenn ich weiterhin mein Talent einsetze, damit Menschen sich für unsere Arbeit begeistern und ihr Portemonnaie öffnen. Wir wissen, dass wir Verbündete brauchen, um gesellschaftliche Probleme wie die Obdachlosigkeit anzugehen – nicht nur, aber auch wegen des Geldes. So finanzieren die BVG und die S-Bahn unsere mobilen Einzelfallhelfer. Das sind Sozialarbeiter, die Kontakt aufnehmen mit obdachlosen Menschen in Zügen oder Bahnhöfen, die vom Hilfesystem nicht mehr erreicht werden. Die Helfer begleiten sie oft monatelang, um Hilfen für sie zu finden. Oder die Freimaurer: Sie ermöglichen die medizinische Fußpflege in unserem Hygienecenter. Menschen auf der Straße haben oft große Probleme mit Entzündungen und Wunden an den Füßen, ein extrem wichtiges Angebot.
Und was bedeutet für Sie „christliche Verantwortung“?
Ein Beispiel: Neulich war ich zu einem Abend mit vielen Persönlichkeiten der evangelischen Kirche in Berlin eingeladen. Sie fragten mich, wie sie helfen könnten und erwarteten als Antwort wahrscheinlich so etwas wie: „Schlafsäcke, Margarine und H-Milch.“ Ja, das brauchen wir auch – aber wir möchten im Zentrum am Zoo auch eine Gemeinde gründen. Und weil ich ja ohnehin mit so viel geballter evangelischer Kompetenz zusammen saß, sagte ich: Ein bisschen Anschubhilfe bei dieser Gemeinde könnte ich mir gut vorstellen. Wir brauchen gute Prediger, aber vielleicht ja auch irgendwann einen Stadtmissionar, dessen Stelle finanziert werden müsste.
Was wird das Zentrum am Zoo noch bieten?
Viele verschiedene Dinge. Geplant sind fachpsychiatrische Hilfen für obdachlose Menschen, aber auch Kunst und Kultur sowie Bildungsarbeit in Sachen Obdachlosigkeit. Jedes Jahr besuchen uns rund 150 Praktikanten und mehr als 100 Schulklassen, Politiker, Firmen, Künstler. Seit einiger Zeit nennen wir das, was wir anbieten, „Herzensbildung“. Es geht nicht nur darum, etwas über unsere Gesellschaft zu lernen. Sondern auch darum, für uns selbst etwas zu gewinnen – die Akzeptanz, andere Menschen so anzunehmen, wie sie sind.
Sie sehen sich selbst als Netzwerker. Oft sind auch prominente Gäste bei Ihnen.
Prominente Gäste helfen, etwas zu transportieren. Traurig, aber auch mit Respekt und Humor denke ich an Gunter Gabriel. Ein Journalist hatte ihn überredet, ein Konzert in der Bahnhofsmission zu geben. Gabriel war irgendwie verrückt, aber radikal ehrlich. Und als er bei seinem letzten Konzert gemeinsam mit einer fast 80 Jahre alten Diakonieschwester sang: „Sag mir, wo die Blumen sind”, haben alle geweint.
Sie hatten auch Bundespräsidenten zu Gast...
Ja, sogar zwei. Frank-Walter Steinmeier war bei seinem ersten Besuch noch SPD-Fraktionschef. Er hat ja über Obdachlosigkeit promoviert und als junger Jurist ehrenamtlich Rechtsberatung für Obdachlose angeboten. Bei diesem ersten Besuch merkte man, dass er etwas wiedererkannte. Das hat etwas bei ihm ausgelöst und das hält auch heute an. Bei dem Besuch von Joachim Gauck und Daniela Schadt hatte eine Praktikantin die Namensschilder mit „Joachim“ und „Daniela“ geschrieben. Gauck lächelte und machte sich ganz souverän das Schild an. Das hat mir gefallen. Er kündigte an, nach dem Ende seiner Amtszeit mal zum Geschirrspülen zu kommen. Und tatsächlich rief wenige Monate später sein Büroleiter an und sagte, Herr Gauck möchte jetzt sein Versprechen einlösen.
Steinmeier kommt regelmäßig?
Ja, und auch seine Frau. Sie unterstützen die Idee des neuen Zentrums am Zoo sehr. Das verschafft einem solchen Projekt natürlich großen gesellschaftlichen Rückhalt. Für die Eröffnung im Herbst dieses Jahres wünschen wir uns alle sehr, dass der Bundespräsident dabei ist. Er hat mich übrigens am Montag angerufen, das hat mich sehr gefreut.
Spielt die Politik künftig eine größere Rolle in Ihrer Arbeit?
Die Bahnhofsmission war auch schon in den vergangenen Jahren sehr erfolgreich, Politiker aus allen Parteien inhaltlich mitzunehmen. Die Politiker kommen zu sogenannten Servicetagen, sie arbeiten dann einen Tag mit und bekommen von uns Hintergründe vermittelt. Das ist oft bewegend, ich habe Senatoren bei uns weinen sehen. Wer sich bewegen lässt, hat eine gute Voraussetzung, um gute Politik zu machen. Es geht auch nicht nur um Politik. Mich haben zum Beispiel Menschen aus Moabit angesprochen, denen aufgefallen ist, dass die Obdachlosen vor ihrer Tür immer mehr werden. Nun haben sie mich gebeten, ihnen etwas über den Background dieser Menschen zu erzählen und wie sie ihnen sinnvoll helfen können. So etwas macht mir großen Spaß.
Hat sich die Sicht der Politik auf Obdachlosigkeit verändert?
Es ist spürbar, dass Berlin inzwischen eine andere Haushaltslage hat - wir bekommen also mehr Geld. Ich hoffe, dass der Wirtschaftsaufschwung noch ein paar Jahre anhält, damit wir noch weitere Projekte umsetzen können. Das Klima ist aktuell insgesamt sehr aufgeschlossen, das kann ich gar nicht an einzelnen Parteien festmachen.
Am Wochenende sind Sie auf der Klausur der SPD-Abgeordnetenhausfraktion in Rostock als Referent eingeladen.Was werden Sie sagen?
(lacht) Fraktionschef Raed Saleh hat mir gesagt, ich soll die Fraktion ordentlich, nun ja, zusammenscheißen. Das ist doch ein schöner Job. Was ich genau erzähle, muss ich aber noch ausarbeiten. Ich möchte dort ein Gefühl zum Ausdruck bringen, das nichts mit Obdachlosen zu hat: Ich mag mich nicht damit anfreunden, dass in Berlin vormittags um zehn Uhr gefühlt jeder Vierte mit einer Bierflasche in der Hand durch die Stadt läuft. Das ist eine unglaublich kaputte Symbolik für unser Zusammenleben. Wie werden wir eigentlich künftig zusammen leben und wir wollen wir unser Leben neu organisieren? Ich möchte von Politikern nicht nur Regeln und Gesetze, sondern wünsche mir, dass sie gemeinsam mit uns entwickeln, wofür es sich zu leben lohnt.
Werden Sie künftig auch andere Themenfelder bearbeiten?
Die Stadtmission ist groß, wir betreiben 80 Einrichtungen, haben 1000 hauptamtlich Beschäftigte und 1800 Ehrenamtliche. Ich bleibe Sozialarbeiter und Diakon und damit Handwerker. Wo können wir uns um andere kümmern? Wie ticken die, die eine Wohnung haben aber kein Geld für Zahnersatz, die arm und einsam sind? Da sehe ich ein großes Betätigungsfeld mit steigendem Bedarf. In England und Irland gibt es Einsamkeitsminister. Berlin ist auch eine relativ “alte” Metropole. Ich fände es toll, wenn in Berlin nicht nur Suppe für Senioren ausgegeben wird, sondern Tangokurse.
Ihr größter Traum, beruflich?
Ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür, dass Obdachlosigkeit für uns alle schädlich ist, nicht nur für die direkt Betroffenen. Jede Hilfe, die wir einem dieser Menschen gewähren, ist auch eine Hilfe, die wir uns selbst gewähren. Es geht um unsere Lebensqualität. Wir setzen uns für alles ein, vom Weltfrieden bis zum Umweltschutz – mit Recht. Aber wir gehen jeden Tag an 50 Menschen vorbei, die sterben. Das ist bigott.
Der Nachfolger
Neuer Leiter der Bahnhofsmission am Zoo ist Wilhelm (Willi) Nadolny. Der 32 Jahre alte Sozialarbeiter kam 2011 zu einem Praktikum in die Bahnhofsmission, 2012 wurde er dort angestellt. „Die Arbeit in der Bahnhofsmission ist Beruf und Berufung für mich“, sagte er der Berliner Morgenpost. Willi Nadolny war bereits in den vergangenen Jahren Dieter Puhls Stellvertreter und hat „bisher schon viele Aufgaben erfolgreich übernommen“, wie Puhl betonte. Der neue Leiter erklärte, es werde künftig am Zoo mehr Angebote speziell für alte Menschen und Frauen geben.
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