Berlin geht der Platz aus. In der Stadt leben immer mehr Menschen, vor allem in den Innenstadtbezirken wissen die Verwaltungen kaum noch, wie sie deren Bedürfnisse erfüllen sollen. Wie das dynamische Bevölkerungswachstum Berlins bewältigt werden könnte, beschäftigt aber nicht nur die Rathauschefs der Innenstadtbezirke, sondern auch Wissenschaftler, Stadtplaner, Architekten und Landespolitiker. Sie diskutieren die Frage, ob es nicht Zeit für einen neuen, einen 13. Berliner Stadtbezirk ist.
Politiker der Innenstadtbezirke haben in der Berliner Morgenpost vom Sonnabend von ihren Problemen berichtet, bezahlbares Wohnen, Bildung und Freizeit auf den knappen Grundflächen zu schaffen. Sie brauchen Schulplätze, finden aber kaum Grundstücke für Neubauten, für bezahlbaren Wohnraum gilt dasselbe. Erst am Sonnabend demonstrierten in Lichtenberg Hunderte Menschen unter dem Motto „Gegen den Ausverkauf der Stadt“. Welche Chancen ein neuer Bezirk bedeutet, beleuchtet die Berliner Morgenpost in einer neuen Serie.
Könnte ein neuer Bezirk die Innenstadtbezirke entlasten? Immerhin ist seit der Gebietsreform 2001 die Einwohnerzahl Berlins um rund 285.000 Menschen gestiegen – das entspricht der Bevölkerungszahl Friedrichshain-Kreuzbergs. Rechnerisch wäre also ein neuer Bezirk längst fällig. Zugleich ist der Bezirk Pankow so stark gewachsen, dass er mit 404.000 Einwohnern die einst angedachte Richtgröße von 300.000 deutlich überschritten hat. Wo ein 13. Bezirk entstehen und wie er aussehen könnte, wird allerdings kontrovers diskutiert.
„Ein 13. Bezirk wäre grundsätzlich interessant und notwendig“, sagt Tobias Schulze, stellvertretender Landesvorsitzender der Linken Berlin. Auf Berlins Flächen sei dies aber nicht möglich. Berlin müsse deshalb mit Brandenburg kooperieren. „Es wäre spannend, wenn nach den Vorbildern des Wohnungsbaus der 20er-Jahre ein integratives Modellviertel entstehen würde“, so Schulze.
„Ein 13. Bezirk sollte in der Metropolregion entstehen“
Ähnlich sieht es Christian Gräff, bau- und wohnungspolitischer Sprecher der CDU. „Wir können die Abwicklung des Wachstums in Berlin nicht Pankow, Lichtenberg und Treptow-Köpenick allein überlassen, die sind schon überlastet. Deshalb ist ein 13. Bezirk durchaus einer ernsthaften Prüfung wert“, sagt Gräff. Es gebe in Berlin große Wachstumsgebiete, die geeignete Räume für einen 13. Stadtbezirk bieten könnten: Im Südosten zwischen Neukölln, Treptow-Köpenick, Schönefeld und Blankenfelde-Mahlow.
Im Norden zwischen Pankow, Buch, Bernau und Oranienburg. Im Westen zwischen Spandau, Zehlendorf, Potsdam und Falkensee. „Ohne die Einbeziehung Brandenburgs geht es also nicht“, so der CDU-Politiker. Ideal wäre eine neue internationale Bauausstellung, in der neue Techniken, neue nachhaltige Bauformen zum Einsatz kämen und für alle sozialen Schichten gebaut würde. Der 13. Bezirk sollte eine Modellverwaltung bekommen, in der alle Abläufe digital abgewickelt werden könnten, so sein Vorschlag.
Auch FDP-Fraktionschef Sebastian Czaja hält neue Wege in der Stadtplanung für notwendig. „Am Ende müssen wir für die Option offen sein, landeseigene Nutzungsflächen nahe Großbeeren direkt an der Stadtgrenze zu Berlin zu entwickeln“, schlägt er vor. Für beide Länder bestehe ein Interesse, einvernehmlich Grundlagen für eine zukunftsgerechte Infrastrukturentwicklung in der Metropolregion zu legen.
Stadtforscher Aljoscha Hofmann von der Initiative Think Berlin rät ebenfalls zum Blick über die Landesgrenze. „Vielleicht wäre der Flughafen Tegel groß genug, aber dann müsste er erst einmal schließen und die bisherigen Planungen, die dort den Bau von ,nur‘ 5000 Wohnungen vorsehen, müssten überarbeitet werden“, sagt er. „Der 13. Bezirk sollte deshalb in der Metropolregion Berlin-Brandenburg entstehen – besser noch, die Metropolregion sein“, schlägt er vor. Die kleinen Städte um Berlin herum böten viel Potenzial.
„Die Modellüberlegung eines 13. Bezirks ist gut, aber nicht so einfach, wie es der Name verspricht“, meint Volker Hassemer, Vorsitzender der Stiftung Zukunft Berlin und früherer Stadtentwicklungssenator Berlins. Man könne einen solchen Bezirk nicht aus dem Boden stampfen, dafür gebe es keinen Boden. Vielmehr müsse man die in der Region verteilten Flächen in Zusammenarbeit mit Brandenburger Gemeinden zu einem 13. Bezirk klug zusammenstellen. „Alles andere ist eine Illusion.“
„Ein 13. Bezirk wäre eine Chance, das Thema Berlin-Brandenburg neu anzugehen“, sagt Philipp Misselwitz, Professor für Internationale Urbanistik der Technischen Universität. Er rät vom „Denken in künstlichen Grenzen“ ab: „Die Lebensrealität ist eine andere. Die Menschen pendeln aus der Stadt heraus und in sie hinein. Eine klimagerechte und lebenswerte Stadt zu schaffen, funktioniert nicht in den künstlichen Grenzen, die vor 100 Jahren geschaffen wurden. Die Gründung Groß-Berlins 1920 war damals innovativ. Heute wäre es radikal, in der Stadtregion zu denken statt in der Stadt.“
An der See, auf dem Flugfeld: Die Ideen der Architekten
Die kreativsten Antworten auf die Frage, wie Berlin weiterwachsen könne, geben naturgemäß die Architekten, wenn sie ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Urs Füsslers visionäre Antwort auf die Frage, wie Berlin wachsen kann, wenn innerhalb der Stadtgrenzen alle Potenziale ausgeschöpft sind, lautet: Nachnutzung des Flughafens BER in Schönefeld. Der ist zwar aus bekannten Gründen noch gar nicht eröffnet, aber der Architekt geht davon aus, dass „nach Einführung von Hybridantrieben in der zivilen Luftfahrt Flughäfen zu Städten umgebaut werden können“.
Den Entwurf zur Flughafen-Nachnutzung, der die Anmutung einer zweiten Gropiusstadt hat, hatte Füssler beim Ideen-Forum „Berlin Neustadt“ eingereicht, zu dem der Bund Deutscher Architekten (BDA) Berlin eingeladen hatte. „Wir haben die Frage gestellt: Wie würde man eine neue Stadt entwerfen – eine eigene Stadt, vor den Toren Berlins?“, erklärt Petra Vellinga, Geschäftsführerin des BDA Berlin. Das Spektrum der Ideen reicht von konkreten Vorschlägen, Berlin via Schnellzug um eine Neustadt an der Ostsee zu erweitern, bis zur brutalen Vision eines „Stadtlebens auf dem Tempelhofer Flugfeld“, bei dem dieses komplett zugebaut wäre.
IHK warnt: Bis zur Eröffnung könnten Jahrzehnte vergehen
„Berlin hat in Theorie ausreichend Flächen, um auch in großem Stil mit einer guten Mischung aus Wohnen, Gewerbe und sozialer Infrastruktur zu bauen“, gibt Jochen Brückmannn, IHK-Bereichsleiter für Stadtentwicklung, zu bedenken und nennt Elisabeth-Aue, Blankenburger Süden, Buckower Felder, die Randbebauung auf dem Tempelhofer Feld. „Das wären ja im Wesentlichen auch die gleichen Flächen, über die man bei der Schaffung eines neuen Bezirks mutmaßlich auch reden würde.“ Die Flächen, die innerhalb der Landesgrenzen theoretisch infrage kommen, seien schon jetzt hochgradig umstritten. Müssten Bezirke neu zugeschnitten werden, stoße dies erfahrungsgemäß bei den „Alteingesessenen“ auf Ablehnung. Da dauere es eher Jahrzehnte als Jahre, bis der Bürgermeister des neuen Bezirks zur „Eröffnung“ lade.
Skeptisch ist auch Maren Kern, Chefin des Verbandes Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen. „Ein neuer Bezirk brächte wenig, weil mit ihm neue Verwaltungsstrukturen und eine vollkommen neue Infrastruktur notwendig würden. Der zeitliche Vorlauf wäre ebenso unabsehbar wie die Frage, wo er entstehen sollte“, meint sie. Viel wichtiger wäre, dass in Berlin beim Neubau wieder „groß gedacht“ wird. „Platz dafür gibt es, sogar oft auf Flächen im Eigentum der öffentlichen Hand.“ Sie denke beispielsweise an die Elisabeth-Aue, den Flughafen Tegel oder die Randbereiche des Tempelhofer Feldes: „Hier können jeweils Wohnungen für viele Tausend Menschen errichtet werden: in TXL gehen wir von mindestens 10.000 Wohnungen aus, auf dem Tempelhofer Feld ebenso.“
Von einem neuen Quartier könnte auch das Stadtmarketing profitieren, wie das Beispiel der „Neuen Altstadt“ in Frankfurt am Main zeigt. Das 2018 eröffnete Quartier ist ein Touristenmagnet. Die Stadt, die als „kühle Geschäftsreisestadt“ wahrgenommen werde, habe dort die Chance, sich anders – weicher – zu präsentieren, sagt Sabine Gnau von der Vermarktungsgesellschaft Frankfurt-Tourismus.
Die Stadt und ihre Bezirke
Seit 1. Januar 2001 gibt es in Berlin zwölf Bezirke. Sie sind das Ergebnis der Gebietsreform, die das Abgeordnetenhaus Ende der 90er-Jahre beschlossen hatte.
Mit der Gründung Groß-Berlins 1920 entstanden 20 Verwaltungsbezirke. Die Teilung der Stadt 1945 orientierte sich an deren Grenzen, sodass die Bezirke erhalten blieben: zwölf im Westen, acht im Osten. In Ost-Berlin kamen zwischen 1979 und 1986 die drei großen Neubaugebiete Marzahn, Hellersdorf und Hohenschönhausen als eigene Bezirke hinzu. Nach der Wiedervereinigung 1990 bestand Berlin damit aus 23 Bezirken.
Mit der Gebietsreform wurden zahlreiche Bezirke zusammengelegt. Ziel: Alle Bezirke sollten in etwa gleich viele Einwohner haben. Inzwischen allerdings weichen die Zahlen deutlich ab: So wurden in Reinickendorf im Juni 2018 knapp 264.000 Einwohner gezählt, in Pankow lebten gut 404.000 Menschen.
Berlins Innenstadt platzt aus allen Nähten
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