Berlin. In Raum 17.01 geht die Angst um. 48 Grundschullehrerinnen starren auf Notizblöcke und weiße Wände. Zwei Projektoren werfen endlose Algebra-Formeln an die Wand, Induktionsbeweise. „Faszination Mathematik“, so hat der Dozent seine Vorlesung genannt. Ihm, dem 72-jährigen Mathematiker im grauen Anzug, hört man die Faszination an. Die Zuhörerinnen, die alle schon unterrichten, wollen vor allem eins wissen: Wie kommen wir durch die Klausur?
Wer als Quereinsteiger den Lehrermangel in Berlin kompensiert, muss seine Lehrbefähigung nachholen. Die erste Phase im Weiterbildungsprozess absolvieren die Lehrer hier in einem Hinterhof in Mitte. Von Montag bis Donnerstag unterrichten sie in ihren Klassen, am Freitag holen sie im Studienzentrum für Erziehung, Pädagogik und Schule“ (StEPS) jene Fächer nach, die ihnen für eine Lehrbefähigung fehlen. Naturwissenschaften, Deutsch oder Mathematik. 666 Lehrer absolvieren derzeit die berufsbegleitenden Studien. Es gehe darum, erklärt die Senatsbildungsverwaltung, das bundesweit festgelegte, fachwissenschaftliche Niveau nachzuholen.
Vier Tage unterrichten, am Wochenende pauken
Aber die Lehrer fühlen sich mit dem Studium überfordert. Trifft man einige von ihnen in der Nähe des Ausbildungszentrums, hört man emotionsgeladene Worte. „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand“, sagt eine Grundschullehrerin. Was sie meint: Wer die Mathematik-Klausur nicht besteht, dem wird laut Angaben der Senatsverwaltung für Bildung der unbefristete Vertrag gekündigt. Die Quereinsteiger sprechen von unerträglichem Druck. „Wir sollen Kindern die Angst vor Mathe nehmen“, sagt ein Lehrer, „aber hier lehren sie uns das Fürchten.“ Keiner der Quereinsteiger will den eigenen Namen in der Zeitung lesen. Sie fürchten um ihre Jobs. Das Lernpensum sei parallel zu den vier Tagen, an denen sie an den Schulen unterrichten, nicht zu bewältigen. Sie sprechen von 30 Seiten Skript pro Vorlesung, die sie an Wochenenden pauken. Ein Ingenieur, der angewandte Mathematik studiert hat und in den Lehrerberuf eingestiegen ist, sagt, er nehme Nachhilfe – wie alle im Kurs.
Ein weiterer Vorwurf: Der Stoff, den die Grundschullehrer in der Mathematik-Fortbildung lernen, habe nichts mit der Unterrichtsrealität zu tun. Und wer sich in die Vorlesung im StEPS setzt, fragt sich in der Tat, ob die vollständige Induktion für den Rechenunterricht von Grundschülern wichtig ist. Die Senatsverwaltung beschwichtigt: Von 273 Teilnehmern an den Mathematikstudien hätten seit 2014 nur 14 die erforderlichen Leistungen nicht nachweisen können. Druck und Überlastung, so eine Sprecherin, seien subjektiv. Aber: „Unbestritten ist, dass die bei einer Vollzeitstelle recht hohe Unterrichtsverpflichtung von 18 Stunden in jedem Fall tatsächlich eine starke berufliche Herausforderung darstellt.“ Jedem Quereinsteiger stehe es frei, über einen Teilzeitvertrag den Unterricht auf 13 Stunden zu reduzieren. Zum Vorwurf der Praxisferne heißt es, man müsse ein Mindestniveau an Fachlichkeit sicherstellen. Zudem werde – in geringerem Maße – Fachdidaktik unterrichtet und im Referendariat vertieft.
GEW nennt Fortbildung chaotisch und intransparent
Matthias Jähne von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sieht strukturelle Gründe hinter den Ängsten der Quereinsteiger. Die Fortbildungsprogramme im StEPS seien aus der Not geboren. Entsprechend intransparent und chaotisch sei das StEPS entstanden. „Die Vertragsauflösung bei Nichtbestehen ist absurd“, sagt Jähne. Der Bedarf an Lehrern bestehe weiter. Wer durchfalle, würde ohne Lehrbefähigung weiterbeschäftigt. Jedoch befristet.
Vor dem Jahreswechsel haben die Grundschullehrer der StEPS-Leitung einen Brief überreicht, in dem sie auf die empfundenen Missstände hinweisen. Rund 130 haben ihn unterschrieben. Aus der Senatsverwaltung heißt es, man habe mit den Betroffenen kommuniziert und bereits reagiert: So biete man Tutorien an und wolle die Quereinsteiger künftig vor Beginn der Studien neu an die Mathematik heranführen.
So geht der Quereinstieg
Quereinsteiger müssen einen Master, Magister oder ein Diplom und ein Fach studiert haben, für das es hohen Bedarf in den Schulen gibt. Für den Quereinsteig in die Grundschule müssen am „Studienzentrum für Erziehung, Pädagogik und Schule“ (StEPS) eventuell fehlende Fächer nachstudiert werden – etwa Deutsch und Mathematik. Für die Arbeit an Integrierten Sekundarschulen (ISS) und Gymnasien ist ein weiteres Fach nötig, für Berufliche Schulen ein berufliches oder ein allgemeinbildendes Fach.
Darauf folgt der 18-monatige Vorbereitungsdienst und die Staatsprüfung. Erst dann sind Quereinsteiger fertige Lehrer. Das alles kann bis zu fünf Jahre dauern.
Ein anderer Weg verläuft über Studiengänge wie den Master of Education an der Humboldt Universität. Den Studiengang für Quereinsteiger in das Grundschullehramt gibt es seit diesem Wintersemester. Er dauert zwei Jahre und läuft nicht berufsbegleitend. Zielgruppe sind Absolventen von Studien in den naturwissenschaftlichen Fächern, Germanistik, Geografie, Geschichte oder Sozialwissenschaften.
„Ich habe mit viel Zähneknirschen zugestimmt“
So wurde Quereinsteigerin Birgit Vonhoegen Lehrerin