Nachruf

Graciano Rocchigiani: Ein Leben ohne Kompromisse

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Matthias Brzezinski
Graciano Rocchigiani wurde auch nach seiner Karriere als Champion verehrt. Der Berliner starb mit 54 Jahren bei einem Unfall

Graciano Rocchigiani wurde auch nach seiner Karriere als Champion verehrt. Der Berliner starb mit 54 Jahren bei einem Unfall

Foto: DAVIDS/Darmer / DAVIDS

Berlins Boxchampion Graciano Rocchigiani blieb bis zu seinem viel zu frühen Tod ein Mann voller Widersprüche.

Berlin.  Am Abend des 1. Oktober endete auf Sizilien das Leben des zweimaligen Profibox-Weltmeisters Graciano Rocchigiani. Der Berliner wurde auf der Staatsstraße 121 zwischen Belpasso und Catania als Fußgänger von einem Smart erfasst und verstarb noch am Unfallort. Der 29-jährige Fahrer war nicht alkoholisiert. Die Frage, warum Rocchigiani nachts entlang einer Schnellstraße unterwegs war , will der Staatsanwalt geklärt wissen. War Alkohol im Spiel?

Das Ergebnis der Obduktion wird nichts mehr ändern an der Tatsache, dass nach nur 54 Jahren ein Lebensweg abrupt endete, in dessen Verlauf es so viele Neuanfänge gab, die für 100 Jahre gereicht hätten. „Ich habe in meinem Leben viel Spaß gehabt und viel Ärger. Den Ärger gab es meistens, weil es vorher den Spaß gab. Aber ich habe immer für alles bezahlt. Ich habe nichts getan, wofür ich mich heute schämen müsste“, lautete das Mantra des Mannes, den die meisten nur „Rocky“ riefen. Der trotz umstrittener Niederlagen in Straßenfeger-Kämpfen gegen Henry Maske und Dariusz Michalczeweski weiter als Champion verehrt wurde.

Eine Obduktion soll klären,ob Alkohol im Spiel war

Wer mit Graciano Rocchigiani gut auskommen wollte, musste ihn akzeptieren, wie er war. Wenn man Sätze hörte wie „Du gehst mir nicht auf die Nerven“, hatte man sein Wohlwollen, das er nie entzog. Gleichwohl, das Wort Kompromiss kam in seinem Wortschatz nicht vor. Was oft genug zu seinem Nachteil geriet. Schonungslos direkt, bisweilen hart an der Grenze zur Unhöflichkeit sagte er seine Meinung. Nicht nur als TV-Experte. Rocchigiani wurde so einer der wenigen, die in der Öffentlichkeit „Scheiße“ oder „es kotzt mich an“ sagen durften, ohne dass es ihm jemand übelnahm. Bisweilen wurden seine Zornesausbrüche, Horrormomente für jeden um Ausgleich bemühten Moderator, von den Fans herbeigesehnt. Was seinen Sport anging, hatte er fast immer recht.

Wer miterlebt hat, wie Graciano Rocchigiani ausrasten konnte – obwohl ihm ein Richter mal sagte: „Ihre Hände sind Waffen“ – konnte das allenfalls akzeptieren, wenn er auch die nette Seite kannte. Die Seite, die seinem Bedürfnis nach Harmonie viel mehr entsprach als das dem Image des bösen Buben. „Rocky“ hatte gern seine Ruhe. Legendär wurde die Aussage: „Wat braucht der Mensch schon außer Glotze gucken, n’ Zbisschen bumsen und n’bisschen Anerkennung.“

Letztere hat er sich im Sport erarbeitet, im normalen Leben sah das nicht selten anders aus. Er glaubte zu wissen warum. „Die Leute wollen doch nur Weicheier“, lautete immer seine Begründung, obwohl ihm klar war, dass er sich die Sache viel zu einfach machte.

Rocchigianis Lebenspektrum reichte vom Millionär bis zum Hartz-IV-Empfänger. Er schaffte den Spagat vom vermeintlich glücklichen Ehemann bis zum vermeintlichen Alkoholiker. „Rocky“ hatte eine Tochter (Janina), eine Ehefrau (Christine), Freunde, Freundinnen, Affären und Stress mit der Justiz, gewann aus dem Gefängnis heraus einen Millionen-Schadenersatzprozess gegen den World Boxing Council (WBC). Er konnte genießen, wenn er etwas hatte, aber er klagte nie, wenn er am Abgrund stand – und dort stand der Boxer viel zu oft. „Ick würde gern nochmal von vorn anfangen“ sagte er dem Reporter mal und lächelte wegen des ungläubigen Blickes seines Gegenübers – um dann zuzugeben: „Aber wahrscheinlich würde ich es nicht soviel besser hinkriegen.“ Was will man so einem Menschen raten?

Reden konnte man mit ihm über viel mehr als nur Boxen. Graciano Rocchigiani war ein Familienmensch, Bruder Ralf (55) seine wichtigste Bezugsperson. Vater Zanubio war Anfang der 1960er-Jahre von Sardinien als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, Mutter Renate hielt hier den Laden bis zuletzt zusammen, dazu kam noch Schwester Claudia (47). „Ich habe zu wenig für meine Eltern getan, das tut mir leid. Beide haben für uns geschuftet und wir hatte eine gute Kindheit, obwohl nur wenig Kohle da war“, gab er zu und forderte gleichzeitig vom Staat mehr „Kümmern um die alten Leute“.

Politiker waren ihm solange suspekt, wie sie „quatschten“. Gleichzeitig gab er zu, dass er für ein eigenes politisches Engagement „zu faul“ sei. Sein Leben beschrieb er gern als Achterbahn – mal oben, mal unten. Regelmäßigkeit war da nicht vorgesehen. Graciano Rocchigiani fühlte sich wohl, wenn er im Boxring stand oder später dort auch mit Talenten arbeiten konnte. Nachhaltigkeit verhinderte seine Kompromisslosigkeit und oft auch die mangelnde Seriosität von „Partnern“. Seine Ausnahmestellung in der Öffentlichkeit hat das kaum berührt. Er hatte etwas geschafft, was nicht jedem Sportler, auch sehr erfolgreichen, gelingt. Fiel der Name Graciano Rocchigiani, wussten selbst Menschen die sich nicht fürs Boxen interessierten, wo er hingehörte. „Dafür kann ick mir nüscht koofen“, sah Rocky das aber eher als nicht erwähnenswert an.

Die Achterbahn ist nun zum Stillstand gekommen und irgendwie verwundert es Begleiter nicht, dass Rocchigianis Leben nicht mit einem friedlichen Einschlummern geendet hat. Die Tragik, wenn man so will, allen sportlichen Erfolgen zum Trotz nicht als gemachter Mann gelebt zu haben, ist das, was den Berliner wohl unvergessen machen wird. Die Einsicht „eene Runde haste, eene jibste ab“, wurde ihm, der in seinen Anfangsjahren beim gemeinsamen Training mit Bruder Ralf (auch der wurde Profibox-Champion) schon mal eine Zigarette rauchte, zum ständigen Begleiter.

Zuletzt soll es ihn vermehrt nach Italien gezogen haben. Eine Freundin, Tochter eines Kaffee-Fabrikanten, deren zwei kleine Kinder, schienen Rocky in ruhiges Fahrwasser gebracht zu haben. Aber so ganz genau ist das nicht raus. Auszurechnen war Graciano Rocchigiani ja nie, weder im Ring noch im Alltag. Nur ist das jetzt ohne Relevanz. Nicht nur der Familie wird er als Mensch fehlen. Berlins Boxfreunden besonders als ehrliche Haut und sympathischer Querulant.