Berlin. Berliner Spaziergang: die Sonntagsserie der Berliner Morgenpost. Heute mit Michelle Müntefering, Staatssekretärin im Auswärtigen Amt.
Ihr Fahrer in der schwarzen Limousine hat an diesem Tag ziemlich viel Wartezeit. Michelle Müntefering (38) läuft gerne. Die Staatsministerin (SPD) ist so etwas wie die „Lola rennt“ der internationalen Kulturpolitik. Sie braucht unbedingt Bewegung, und wo immer sie zu Fuß gehen kann, tut sie es. Außerdem könnte ihr Weg vom Auswärtigen Amt nach Hause an den Hackeschen Hof kaum schöner sein. Er führt vom Werderschen Markt am Humboldt Forum vorbei Richtung Museumsinsel. Dort steht das neue Eingangszentrum von David Chipperfield mit seinen antiken Anklängen. Das Schönste aber sind die Kolonnaden an der Alten Nationalgalerie im Abendlicht mit Blick auf die Spree. An dieser Stelle findet Berlin sein Herz.
Unser Treffpunkt: die Neue Synagoge in der Oranienstraße. Michelle Müntefering möchte uns durch ihren Kiez führen. „Wir sind wohl 5 Minuten zu früh!“, schreibt uns ihr Referent per SMS. Freundliche Meldungen dieser Art erhält man sonst eher selten. Schon kommt uns die Staatsministerin winkend und mit dynamischen Schritten entgegen. Ihr Lachen und ihre Frische wirken ansteckend an diesem Sommertag in Mitte. Schwarzes, elegant-sportliches Kleid, dazu schwarze Schuhe. Statt Ledertasche hat sie einen Stoffbeutel an der Schulter hängen – mit dem Aufdruck „Diplomatengepäck“. Ein bisschen Understatement gehört dazu, und Spaß darf auch sein.
Es muss Spaß machen, mit ihr zu arbeiten
Die Frau des früheren SPD-Chefs Franz Müntefering wohnt auch deshalb an den Hackeschen Höfen, weil die Anbindung zum Hauptbahnhof gut ist. In ihrem Alltag ist das wichtig, weil sie zwischen Herne und der Hauptstadt pendelt. Freitagnachmittag geht es zum Zug Richtung Ruhrpott. Dreieinhalb Stunden braucht sie, Herne ist der Hauptwohnsitz der Münteferings. Seit 2009 sind die beiden ein Ehepaar. Seit sie ihr neues Amt hat, ist sie öfter in Berlin, Präsenz ist wichtig. Mittwoch sei Kabinettssitzung, erzählt sie. Nun kommt der Fotograf, um ein Bild von ihr zu machen. An einer der ornamentalen Türen der Synagoge postiert sie sich. „Ist doch schön!“, ruft sie. Da ist sie unkompliziert. „Ich vertraue den Profis“, ruft sie. Ihrem Referenten drückt sie den „Diplomatengepäck“-Beutel in die Hand. „Ja, Chefin“, sagt er und lacht, sie duzen sich. Sie lacht zurück. Mit ihr zu arbeiten muss Spaß machen.

Mit Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) „teilt“ sie sich gewissermaßen die Kultur. Während Grütters sich um das Nationale kümmert, gab es ihr Amt für Internationale Kulturpolitik in dieser Form noch gar nicht. Ihre Vorgängerin Maria Böhmer hatte einen viel größeren Bereich. Bei ihr ist er jetzt enger zugeschnitten, aufgewertet mit einem dauerhaften Sitz am Kabinettstisch. Einmal die Woche wird getagt. Kultur und Bildungspolitik als Teil der Außenpolitik gibt es 2020 schon 100 Jahre. Willy Brandt war es, der Kultur- und Bildungspolitik neben Diplomatie und Wirtschaftsbeziehungen als dritte Säule der Außenpolitik definierte, erzählt sie.
Das Portfolio der 38-Jährigen ist breit, dazu gehören die verschiedenen Bildungsbeziehungen ins Ausland, die Auslandsschulen, die Mittlerinstitutionen wie die Goethe-Institute, die über die ganze Welt verstreut sind, auch die ifa-Galerie zählt dazu. Michelle Müntefering hat Schwerpunkte gesetzt. Die Freiheit zur Meinungsäußerung will sie stärken, verbunden mit dem Schutz verfolgter Wissenschaftler und Künstler. Ebenso möchte sie die jüngere Generation unterstützen, die dabei ist, Verantwortung zu übernehmen für die Zukunft. Der Jugendaustausch ist dabei ein Mosaikstein. Das Thema Erinnerungskultur hat die SPD in die Diskussion gebracht. „Sollen junge Menschen Gedenkstätten besuchen?“, fragt sie uns. „Es gibt wieder und immer noch Antisemitismus. Man sollte auch nicht glauben, dass er jemals weg gewesen ist“, sagt sie.
Die Lehrer im Ruhrgebiet hätten ihr gesagt: „Diskutiert ihr nur, leisten können sich die wenigsten Eltern bei uns das Geld für so eine Reise.“ Mit dem Programm „Jugend erinnert“ soll die Erinnerungskultur gefördert werden. Da zögen die beiden unterschiedlichen Politikerinnen durchaus an einem Strang, sagt Michelle Müntefering. Die kulturpolitischen Themen seien ihr durchaus geläufig, als ehemalige Sprecherin für auswärtige Kultur in der SPD-Fraktion im Bundestag hat sie einfach die Seiten gewechselt.
Nicht ganz einfach dürfte diese Trennung der Aufgabenbereiche zwischen ihrem Amt und dem von Grütters sein. Bestes Beispiel ist das Humboldt Forum, ein Imageprojekt von Monika Grütters. Klar, gebe es Überschneidungen, aber man stimme sich ab, meint Michelle Müntefering. Der Bereich Kolonialismus ist bei der Innen- und der Außenpolitik angesiedelt, sagt sie. So steht es im Koalitionsvertrag. Die Provenienzforschung mit der Erweiterung des Deutschen Zentrums für Kulturverluste in Magdeburg gehört ins Bundeskanzleramt. Beim Auswärtigen Amt konzentriert man sich auf die Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern. Mittlerweile war Michelle Müntefering schon zweimal in Afrika, Nigeria und Südafrika standen auf ihrem Terminplan. Die nächste Reise führt wieder auf diesen Kontinent. Es ginge nicht darum, Kultur zu exportieren oder Geld für Museen zu geben. „Wenn man etwas anders machen will“, sagt sie jetzt etwas nachdenklich, „muss man erst mal hinfahren, zuhören, dann fragen, auch wenn das jetzt banal klingt.“
Wir sind in der ehemaligen Jüdischen Mädchenschule an der Auguststraße angekommen, hier gibt es den Pauly-Saal und Galerien. Sie eilt uns voraus, die alten Fliesen an der Wand im Erdgeschoss will sie uns zeigen. „Super, oder?“ Sie schwärmt von einer Nachbarschaftsinitiative, die hier manchmal einen Secondhand-Markt ausrichtet. „Echt gut“, kann sie nur sagen. Sie hat dort schon mal ein Täschchen gekauft. Im Amt verhält es sich so, dass sie immer noch anzieht, was ihr gefällt. Drei Sachen bräuchte sie, hat ihr „der Franz“, ihr Mann, gesagt, als sie mit der Außenpolitik anfing vor fünf Jahren. Erstens: ein Abonnement der „New York Times“. Zweitens: einen Nadelstreifenanzug. Drittens: einen distinguierten Blick. Sie lacht wieder. „Den Nadelstreifenanzug hat er mir dann nicht gekauft. Thema erledigt.“ Klares Statement für eine junge Politikerin, die ihren eigenen Weg gehen möchte und als Hoffnungsträgerin ihrer Partei gilt. Man kann nur hoffen, dass sie sich ihre Frische, Offenheit und Zugewandtheit so lange wie möglich erhält in der Routine des oft starren Politformalismus.
Einige Schritte weiter auf der Auguststraße stoppt sie vor einem Pop-Store. „Ein neuer Laden, kenne ich noch gar nicht. Cool!“ Die ausgestellten Kleider sind eine heiße Mischung aus Neo-Afro-Look und 70er-Jahre-Chic.
Herne und Berlin, das sind zwei Welten. Das eine ist ihre Heimat, dort ist sie groß geworden, dort hat sie auch heute noch ihren Wahlkreis. Gerade letzte Woche hat sie ein Interview eines Elitenforschers gelesen, der darlegte, wenn man aus einer Arbeiterfamilie im Ruhrgebiet käme, hätte man womöglich einen anderen Blick auf die Welt. Sie kann das nur bestätigen. Sie meint damit wohl diese Art der Bodenständigkeit, diese zupackende Energie, die von ihr ausgeht. „Man nimmt das mit, was man erlebt hat. Man ist Kind seiner Zeit, aber auch Kind der Umstände, in denen man groß geworden ist.“ Was hat sie mitgenommen? „Ich sehe zwischen Berlin und Herne Ähnlichkeiten. Hier und da kommen Menschen aus der ganzen Welt zusammen. Sie sind über Generationen miteinander auf- und zusammengewachsen.“ Doch in Berlin sieht sie andere Probleme als im Ruhrgebiet. „Jeder Fortschritt hat seine Verwerfung, die man gestalten muss. In Berlin kann man sich das Wohnen oft kaum mehr leisten.“ Das Viertel, dort, wo sie jetzt wohnt, hat sie sich erzählen lassen, war einmal ein Armenviertel. „Das war nicht immer so ein Hipster-Galerien-Kunst-Viertel. Ich glaube, das ist so ein Blick, man nimmt die Dinge nicht für gegeben hin.“
Die Grünen schickten nur einen coolen Aufkleber
Woher kommt ihre kulturelle Prägung, und wie kam sie zur SPD? Sie ist Walddorfschülerin, erzählt sie, dort gehört Kultur zum Programm. Inklusive der Ausbildung als Kinderpflegerin. Und schon sprudelt es munter aus ihr heraus. „Wir haben Brecht gespielt, Celan gelesen. Ich habe mir gerade eine Gesamtausgabe, neu ediert, gekauft. Liegt hinten im Auto.“ Da ist es wieder, ihr herzliches Lachen. Na ja, am Wochenende kommt sie sicher nicht dazu, es zu lesen, anderes ist wichtiger. Bildende Kunst liegt ihr nah, sie verrät, dass sie eigentlich gerne auch Theaterregie studiert hätte. Doch dann kamen die Jusos und mit ihnen das politische Erwachen. 1998 folgte die Bundestagswahl mit der Kampagne „Kohl muss weg“. Das fand sie auch und dachte, „jetzt muss ich endlich etwas tun“. Damals schwankte sie zwischen den Grünen und der SPD. Beiden Parteien schrieb sie einen Brief, in dem stand die Frage: „Sagt mir, warum ich ausgerechnet bei euch mitmachen soll?“ Von den Grünen kam schnell ein cooler Aufkleber zurück, die SPD antwortete in einem Brief – mit viel Inhalt. Am Ende war es ein Freund, der sie mit zu den Jusos nahm. Und ja, Hermann darf man in ihrer Geschichte nicht vergessen. Hermann stand damals irgendwann hinter dem Würstchenstand der Genossen. Hermann, fragte sie, was muss ich machen, wenn ich eine gute Sozialdemokratin werden will? Hermann gab ihr nur einen Satz mit, der sie bis heute begleitet. Michelle, sagte Hermann, die Menschen sind nicht gleich, aber gleich viel wert. Das war die überzeugendste Antwort, da wusste sie, „bei der SPD bin ich richtig“.
Gibt es im Hause Müntefering eigentlich einen politikfreien Tag? „Na klar“, sagt sie. „Wir reden ja nicht ständig, was ich im Amt mache oder Franz beim Arbeiter-Samariter-Bund. Er hat Sozialpolitik, ich Außen- und Kulturpolitik, das sind unterschiedliche Bereiche. Was uns antreibt und worüber wir sprechen, sind Gesellschaftsfragen.“ Manchmal legt ihr der Franz einen Zeitungsausschnitt hin, mit einem großen Kreuz am Rand eines Artikels.
Nervt es sie nicht manchmal, häufig auf ihren bekannten SPD-Mann angesprochen zu werden? „Na ja“, sagt sie, „er ist doch ein toller Mann, sonst hätte ich ihn ja nicht geheiratet.“ Dann steht plötzlich der schwarze Dienstwagen am Straßenrand. Der Zug wartet, Herne ruft wie an jedem Freitagnachmittag.
Zur Person:
Karriere: Die Waldorfschülerin, 1980 in Herne geboren, macht von 1997 bis 1998 eine Ausbildung zur Kinderpflegerin, das gehört zum Konzept der Schule. 1999 tritt sie in die SPD ein. Ein Jahr später macht sie ihr Abitur. 2002 bis 2007 studiert sie Journalismus und PR mit dem Abschluss Bachelor of Arts. Zwei Jahre, von 2008 bis 2010, macht sie ein Volontariat bei der Vorwärts Verlagsgesellschaft in Berlin. Seit 2002 ist sie stellvertretende Vorsitzende der SPD Herne. Von 2004 bis 2014 ist sie Mitglied des Landesvorstandes NRW SPD; 2004 bis 2013 Stadtverordnete im Rat der Stadt Herne. Seit 2013 Mitglied des Bundestages; Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe war sie bis 2018. Seit März 2018 ist sie Staatsministerin im Auswärtigen Amt. Sie pendelt zwischen Berlin und Herne, wo sie mit ihrem Mann Franz Müntefering zu Hause ist.
Spaziergang: Unser Weg führt uns von der Neuen Synagoge in der Oranienstraße über die Tucholskystraße in die Auguststraße in Mitte. Dort schauen wir uns die ehemalige Jüdische Mädchenschule an. Die Auguststraße entlang laufen wir weiter bis zum kleinen Park. In Nr. 29 machen wir einen kurzen Stop im Café „Factory girl“. Zurück geht es in Richtung Hackesche Höfe, gleich in der Nähe hat die SPD-Staatsministerin eine Wohnung.