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Mord an der Zarenfamilie: Die berühmte Geschichte als Comic

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Christine Eichelmann
Auszug aus dem Comic IKON von Simon Schwartz

Auszug aus dem Comic IKON von Simon Schwartz

Foto: Simon Schwartz / avant-Verlag

Eine Story der Berliner Illustrirten Zeitung von 1921 inspirierte Zeichner Simon Schwartz zu einem Comic.

Am Anfang stand schlicht eine Zeitungsente. Die Berliner Illustrirte Zeitung (BIZ) vom 23. Oktober 1921 zierte ein Titelfoto der drei jüngeren Töchter von Zar Nikolaus II. Auf mehreren Seiten folgte ein Bericht über die Ermordung der russischen Herrscherfamilie im Juli 1917 – gespickt mit Andeutungen, die jüngste Tochter Anastasia habe die Hinrichtung in Jekaterinburg womöglich überlebt.

Was sich in der Nervenheilanstalt Dalldorf, später die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Reinickendorf, schon bald aus dieser Spekulation entwickeln sollte, ahnte die BIZ-Redaktion damals noch nicht. Und doch wurde jene Ausgabe der Berliner Illustrirten vom Oktober 1921 Aufhänger für die hartnäckigste und wohl aufsehenerregendste Identitätstäuschung im Zusammenhang mit der Romanow-Sippe.

Die Geschichte der Hochstaplerin Franziska Czenstkowski, die sich bis zu ihrem Tod als Zarentochter Anastasia ausgab, hat der Hamburger Zeichner Simon Schwartz jetzt in seinem Comic „Ikon“ aufgearbeitet, der im Berliner Avant-Verlag erschienen ist (ISBN 978-3-945034-79-8, 25 Euro).

„Das war ein früher Fall von Fake News“

„Das war“, sagt Simon Schwartz, „ein früher Fall von Fake News. Auch wenn es den Begriff da noch gar nicht gab.“ Wie er auf die ebenso kuriose wie tragische Randnotiz der Geschichte aufmerksam wurde, kann er nach rund sechsjähriger Beschäftigung damit gar nicht mehr sagen.

Abseitige, oft vergessene Biografien verarbeitete der Comicautor schon in seinen früheren Büchern. Für „Ikon“ recherchierte er unter anderem im Zeitungsarchiv am Westhafen, in Originalquellen sowie den Aufzeichnungen von Zeitgenossen.

Und so fängt alles an

Der Comic von Simon Schwartz beginnt damit, wie sich die gebürtige Polin Franziska Czenstkowski, 1920 Arbeiterin in einem Berliner AEG-Werk, an einem verregneten Abend von der heutigen Bendlerbrücke in den Landwehrkanal stürzt. Den Selbstmordversuch vereitelt ein Polizist, der die psychisch kranke Frau aus dem ohnehin flachen Wasser am Schöneberger Ufer rettet.

Bei Simon Schwartz ist es eine Pflegerin, die später in der Nervenklinik die BIZ-Ausgabe liegen sieht und in der namenlos eingewiesenen, verwirrten Patientin die Zarentochter Anastasia zu erkennen glaubt. „Die Legenden gehen aber auseinander, ob es nicht eine andere Insassin war“, berichtet der Autor.

In jedem Fall griff die Berliner Presse den Fall seinerzeit begierig auf. Obwohl Czenstkowskis ehemalige Vermieterin bald die Verwechslung aufklärte, obwohl Czenstkowski weder Russisch sprach noch Anastasia ähnlich sah, obwohl auch Mitglieder des Romanow-Clans ihre Identität verneinten, bildete sich unter anderem in Teilen des deutschen und des emigrierten russischen Adels eine Anhängerschaft der These von der wiedererstandenen Romanowa. Simon Schwartz sieht dafür einen simplen Grund: „Überall waren die Monarchien untergegangen, die Leute wollten das einfach glauben.“

Botkin entkam Erschießung in Jekaterinburg

Täuschung, Selbsttäuschung und Glaube als Projektion sind das eigentliche Thema von „Ikon“. Neben der Hochstaplerin Czenstkowski steht ihr größter Protegé im Mittelpunkt: Gleb Botkin, Sohn des Leibarztes des Zaren und Spielkamerad der Romanow-Kinder, entkam wirklich der Erschießung in Jekaterinburg und floh anschließend nach Amerika. Später sollte er dort einen neuheidnischen Aphrodite-Kult gründen. Sein Glaube an die falsche Anastasia wird für Botkin ebenfalls zum Kult, Czenstkowski seine Ersatzheilige.

Zwischen die gründlich recherchierte Darstellung der historischen Ereignisse streut der Zeichner in der Graphic Novel Exkurse in die Geschichte der Ikonenverehrung der Orthodoxen Kirche. „Die Ikone ist ein Stellvertreter für das Göttliche, und so war es auch bei Anastasia, die eigentlich ein früher Popstar war“, sagt Schwartz. „Für die, die an sie glaubten, zählte nicht, ob sie die echte Romanow-Tochter war. Wichtig war, wofür sie stand“, so der Zeichner.

Dass der Sensationsfaktor sogar beim Comic wirkt, überrascht den 35-Jährigen nicht. Nein, sagt Schwartz, er sei nicht enttäuscht, dass viele die Geschichte der Czenstkowski stärker fasziniere als die Reflektion über die Ikonisierung an der Person Botkins. In der 216 Seiten starken Graphic Novel verfolgt er die Geschichte der beiden nach Czenstkowskis Übersiedlung in die USA bis zu einem Ende, das sich in „Ikon“ schließlich in einer mystischen Fiktion auflöst.

Unklar ist nach wie vor, ob die Hochstaplerin von außen in ihre Rolle getrieben wurde oder der eigene Antrieb überwog. „Sie war sicher nicht so passiv, wie ich sie darstelle“, sagt Schwartz. So versuchte Czenstkowski noch bis 1978, juristisch an das Vermögen der Zaren-Familie zu gelangen.

In Russland lebt der Mythos um das Ende der Romanows bis heute. „Da gibt es einen 80-Jährigen, der einen Gentest fordert“, erzählt Simon Schwartz. Der Mann wolle beweisen, dass er der Sohn der Anastasia sei. Schwartz: „Es hört nicht auf.“

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