Rot, gelb, grün, die Ampel springt um, endlich freie Fahrt! Wirklich frei? Auf dem Lkw-Sitz zwei Meter über der Straße kneift Richard Schneider die Augen zusammen. Spiegel rechts: kein Radfahrer zu sehen, Spiegel vorn: frei vor der Stoßstange, Spiegel links: auch frei. Schneider dreht das Lenkrad nach rechts, laut brummend biegen 40 Tonnen ab – da leuchtet ein Warndreieck im Fahrerhaus, erst gelb, dann rot, es piept. Schneider steigt in die Eisen, das Fahrerhaus schaukelt, der Koloss steht. Und ein Radfahrer kann unbeschadet rechts am Lkw vorbeifahren.
„Das ist die Stresssituation in der Stadt“, sagt Schneider. Der 54-Jährige ist Testfahrer bei Mercedes-Benz und in Berlin mit Abbiegeassistent unterwegs. Autos, Radfahrer, Fußgänger – sie alle bewegen sich rund um seinen 16,5 Meter langen Lastwagen, wenn er abbiegt. Jeder Fehler kann verheerende Folgen haben, für Radfahrer meist tödliche.
Schon 23 Tote 2018 wegen Abbiegeunfällen
So oder so ähnlich sind in diesem Jahr schon 23 Radfahrer ums Leben gekommen, wie der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) gezählt hat. Vor zwei Wochen wurde in Berlin ein Achtjähriger vor den Augen seiner Mutter überrollt. Der Ruf wird lauter, Abbiegeassistenten zur Pflicht zu machen.
Bei ihnen handelt es sich um einen unscheinbaren schuhkartongroßen schwarzen Block, der vor dem rechten Hinterrad von Richard Schneiders Sattelzugmaschine sitzt. Darin: zwei Radar-Geräte. Sie erfassen die Längsseite des Lastwagens, dreieinhalb Meter werden überwacht. Die Unfallforschung der Versicherer glaubt, dass solche Helfer jedes Jahr knapp 200 Unfälle mit getöteten oder schwer verletzten Radfahrern verhindern könnten. Warum gibt es sie dann nicht in jedem Lastwagen?
Abbiegeassistent soll verbindlich werden
Union und SPD haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass sie Abbiegeassistenten verbindlich vorschreiben. Der Bundesrat fordert eine Nachrüstpflicht. Knapp 150.000 Menschen haben eine Onlinepetition unterzeichnet. „Seit Jahren vertagt die Bundesregierung das Thema immer wieder und schiebt die Verantwortung nach Brüssel ab“, kritisieren die Initiatoren.
Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) will Spediteure, Verbände, Zulieferer, Prüfer und Polizisten einladen, „Aktion Abbiegeassistent“ nennt er das. Assistenten gebe es nur für wenige Modelle, verweisen die Spediteure auf die Hersteller. „Damit der Abbiegeassistent ein Erfolg wird, ist vor allem die Industrie gefragt“, heißt es auch beim Deutschen Verkehrssicherheitsrat.
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