Berlin. Am Pfingstsonntag ziehen wieder mehr als 4000 Karnevalsakteure in 68 Gruppen durch Berlin. Im Vordergrund steht dabei der Wunsch, kulturelle Brücken zu schlagen. Wir haben drei der Karneval-Teams bei den Vorbereitungen auf das Mega-Event getroffen:
Indische Rhythmen mit familiärem Flair
Wer an einem der Trainingstage vor dem Karneval der Kulturen durch das Theaterhaus in Mitte spaziert, kann Wunderliches und Wunderbares entdecken: Hinter der einen Tür probt eine Gruppe junger Männer den Tiger-Tanz – ein beim Onam-Fest in der indischen Stadt Kerala aufgeführtes Ritual, bei dem sich die Männer alle Körperhaare abrasieren und anschließend in Tigerbemalung und rhythmisch um einen imaginiertes Dorf schleichen. Hinter der nächsten Tür tobt sich eine Bhangra-Gruppe aus. Dieser fröhliche Stil mit den ausladenden Tanzschritten ist vor allem in der nordirischen Region Punjab zu finden. Und nebenan üben einige junge Mädels eine Choreografie im Bollywood-Stil ein, die sich an den vielen populären Bewegungen aus der Filmfabrik Mumbai, auch „Bollywood“ genannt, orientiert. Sie alle haben sich hier eingefunden, um unter dem Namen „Berlin Indiawaale“ ein Repertoire auf die Beine zu stellen, das Berlin in diesem Jahr die unzähligen Feste und Feiertage des südasiatischen Vielvölkerstaates näherbringen soll.
Während die einen üben, widmen sich die anderen der Hintergrundarbeit. Die Kinder bemalen im Gang des Theaterhauses bunte Drachen, die Erwachsenen malen in kunstvoller Detailarbeit die Leinwände aus, die am Sonntag den Umzugswagen Nummer 21 schmücken werden. Darauf sind Feste wie das Lichterfest Diwali oder das farbenfrohe Frühlingsfest Holi zu sehen – aber auch Weihnachten und das muslimische Eid al-Fitr sind vertreten. Skizziert hat das meterlange Kunstwerk Arun Kalarickal aus Bangalore. Neben der Malerei ist der in der südindischen IT-Metropole geborene Student, der in Berlin seinen Master macht, auch für die Choreografie der Bollywood-Tanzgruppe zuständig. Seit Beginn seiner Unizeit ist er ein leidenschaftlicher Tänzer. Die Inspiration für die abwechslungsreiche Nummer zieht er aus traditionellen Tänzen und prägnanten Bollywood-Rhythmen.
Auch hier zieht das sich Thema des Jahres, die indischen Feste und Feierlichkeiten, durch das Programm. „Allen Berlinern, die bei uns vorbekommen, kann ich versichern: Sie werden nicht aufhören können, mit dem Tanzen! Diese Musik reißt jeden mit“, verspricht er. Aus seiner Heimatstadt brachte er kaum Klamotten, dafür aber einen ganzen Koffer voller Gewürze mit. Das deutsche Essen schmeckt für den indischen Gaumen nämlich schnell fad. Zum Glück ist auch ein Restaurant Teil des Indiwaale-Teams: Unter dem Namen „Agni“ gibt es einen Laden in Charlottenburg und einen in Prenzlauer Berg. „Wenn nicht gerade einer aus der Gruppe zum Abendessen einlädt, dann gibt es das beste indische Essen Berlins dort vor Ort“, bestätigt auch Tara. Die Deutsche ist seit Jahrzehnten leidenschaftlicher Indien-Fan und übernahm vor ein paar Jahren die Facebook-Gruppe „Indians in Berlin“. Mehr als 11.000 Inder und Berliner mit einer Leidenschaft für Indien finden sich dort zusammen, um das nächste Bollywoodfilmscreening anzukündigen oder sich gegenseitige Hilfe anzubieten. 2013 ging aus dieser Community das Team „Indiawaale“ hervor. „Wir als Gruppe sind eine große Familie, in der jeder so akzeptiert integriert wird, wie er ist. Wir legen eher Wert darauf, perfekt wir selbst zu sein, als perfekte Tänze und Shows hervor zu bringen. Wir feiern zusammen und helfen uns gegenseitig“, sagt Tara.
Wer Teil dieser Familie werden möchte, oder einfach neugierig auf das diesjährige Programm des Teams ist, der kann die Show von „Berlin Indiawaale“ am 19.05., zwischen 12 und 13 Uhr auf der Black Atlantic Stage am Blücherplatz bewundern.
Samba-Proben in Marzahn
Am anderen Ende der Stadt wühlt sich Tänzerin Sonia de Oliveira aus Brasilien durch unzählige Federkostüme in ihrem Depot in Marzahn. Sie sagt von sich selbst, dass nicht sie zum Karneval gekommen sei – sondern er zu ihr. Und das vor mehr als 20 Jahren. Deshalb sei sie, wenn man den Erzählungen glaubt, sogar einer der Hauptgründe dafür, dass aus dem Karneval der Kulturen in den letzten Jahren ein Mega-Event wurde. „Als ich zum ersten Mal vom Karneval der Kulturen hörte, waren nur um die 900 Teilnehmer dabei. Den Vorschlag der Organisatoren, mit ein paar anderen einfach nur auf einem Lkw zu tanzen, fand ich erst einmal etwas sinnlos.“ Deshalb schrieb sie ein Konzept und versammelte 400 Tänzer und 50 Musiker, darunter 20 Musiker des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin, wo auch ihr damaliger Freund spielte. Das Projekt „Amasonia“ wäre fast nicht genehmigt worden: „Die Organisatoren meinten, das sei ja die Hälfte des Umzugs. Aber ich sagte: Alles oder nichts! Das war die Geburt des Karnevals der Kulturen, wie wir ihn heute kennen.“ Jedes Jahr steht unter einem Motto, mit dem „Amasonia“ die Welt ein kleines bisschen besser machen möchte. Diese Saison lautet der Slogan „Sauberes Wasser für alle“ und der Auftritt kreist um die fortschreitende Verschmutzung der Ozeane.
Dass Sonia und ihre Gruppe von Anfang an politisch unterwegs waren, brachte ihr mehrere Drohbriefe ein. Auch sonst blieb es turbulent in den letzten Jahren. Deshalb soll dieses Jahr wirklich das letzte Mal für Sonia sein, die sich selbst als „karnevalssüchtig“ bezeichnet. Doch es fällt schwer, von diesem Berliner Event wegzukommen, dass in seiner Diversität vor allem der multinationalen Identitäten der Hauptstadt Tribut zollt. Für Sonia ist es „ein Ereignis für alle, unabhängig von Alter, Rasse und Religion. Und erst die ganzen persönlichen Geschichten…eine Frau sah uns auf dem Karneval und rief danach mit Tränen bei mir an. Sie steckte zwischen Psychiatrie und Selbstmord – wir luden sie zur Gruppe ein. Das rettete sie und sie fand neue Lebensfreude im Tanz!“
Wer noch unter dem diesjährigen Motto der Gruppe „Sauberes Wasser für alle“ mitmachen will, kann sich bei Sonia de Oliveira unter 0163-239 8015 melden: Von 9-99 und egal ob mit Baby im Kinderwagen oder im Rollstuhl, alle sind willkommen.
Ausgelassene japanische Traditionen in Schöneberg
In Schöneberg neigt sich der Tag zwar dem Ende zu, für die vielen Helfer der Gruppe „Kashiwa-ren e.V.“ wird es aber eine lange Nacht. Die japanische Gastdelegation ist endlich angekommen. In der Privatwohnung von Gründerin Aya Verdier treffen sich die Berliner mit den Ehrengästen zum Willkommensessen. Ein Raum der Wohnung wurde zum Matratzenlager für die größtenteils Mitte-20-Jährigen umfunktioniert. Der ausladende Esstisch eine Tür weiter ist mit Gyoza, japanischen Teigtaschen, und anderen Köstlichkeiten beladen. Die Stimmung ist ausgelassen, der Pioniergeist des jungen Teams liegt in der Luft.
Seit zwei Jahren ist „Kashiwa-ren e.V.“ beim Karneval der Kulturen dabei. Das Besondere ist der tragbare Schrein, ein sogenannter Mikoshi, in welchem traditionell Götter hausen. Beim japanischen Sommerfest, Matsuri, wird diese Göttersänfte auf den Schultern umhergetragen. Der Mikoshi, der in Berlin steht, wurde einst in Japan gefertigt und pendelt seitdem auf Festen zwischen Südfrankreich und Berlin hin und her. Der Enkel des Schrein-Bauers, Nobuya Miyata aus dem Großraum Tokio, hat die Leidenschaft seines Großvaters geerbt und ist selber in das aussterbende Handwerk eingestiegen. Jedes Jahr reist er extra nach Deutschland und Frankreich, um das besondere Gemeinschaftsgefühl des Matsuri auch in Europa aufleben zu lassen.
Die Berliner Umzugsgruppe mit der Nummer 32 betont den säkularen Aspekt ihres Schreins. Gründungsmitglied Saya Speidel erzählt: „Wir haben keine Götter darin, sondern ein langes Stück Stoff. Auf dem stehen die Namen aller Teilnehmenden. Und wir tragen symbolisch unseren gemeinsamen Willen.“ Dies bilde das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe ab. Zudem zeige es den Berlinern, dass die Japaner wahnsinnig gerne feiern. „Wir haben eine Festkultur, die wir gerne zeigen wollen – Straßenfeste sind da ein ganz elementarer Teil davon.“ Das Tragen des Schreins, der über 350 Kilo wiegt, schweißt die Teilnehmer zusammen. Trommeln geben dabei den Takt an und mit rhythmischen „Wasshoi“-Rufen - einem Segensspruch für Feierlichkeiten - feuert sich die Gruppe gegenseitig an. Das Prinzip ist so einfach wie spaßig – wer spontan noch mitmachen will, der kann sich unter info@kashiwa-ren.com noch für Sonntag anmelden.
Abseits des Karneval der Kulturen organisiert die Gruppe am 2. Juni ab 12 Uhr ein Straßenfest an der Schwedter Straße 261, 10119. Bei „Ondo Berlin“ kann jeder mitmachen und einfache Gruppentänze lernen oder sich mit japanischen Kinderspielen amüsieren. Authentisches Streetfood rundet die „Japanese Folklore Dance Party“ ab und bringt Gerüche aus dem fernen Asien in die Berliner Nasen.
Wichtiges zum diesjährigen Karneval der Kulturen:
Zum allerersten Mal: "Karneval der Kulturen" zieht andersherum durch Berlin:
Bei der Route des Straßenumzuges herrscht in diesem Jahr verkehrte Welt. Um 12.30 Uhr startet der Straßenumzug an der Ecke Yorckstraße und Großbeerenstraße und nicht wie in den vergangenen Jahren am Hermannplatz. Mehr dazu hier.
Diese Straßen werden beim Karneval der Kulturen gesperrt:
Welche Straßen sind ab wann gesperrt? Wie fahren U-Bahnen, welche Bus-Linien werden gestrichen? Alle Infos zum Karneval der Kulturen gibt es hier.
Karneval der Kulturen wird teurer:
Ein neues Konzept für mehr Sicherheit erhöht die Kosten für das Fest zu Pfingsten um mehr als 100.000 Euro. Mehr dazu hier.