Berlin. Vom 17. bis zum 19. Mai findet im Haus der Kulturen der Welt die „TYPO Berlin“ statt, eine europäische Designkonferenz, die mit mehr als 1600 Teilnehmern und über 60 Sprechern zu den größten ihrer Art zählt. Auf ihr treffen sich Designer, Marken-Experten, Spezialisten für digitale Schriftarten und viele andere Kreative mehr. Die Berliner Illustrirte Zeitung, das Wochenend-Magazin der Morgenpost, hat diese Konferenz zum Anlass genommen, sich umfassend mit dem Thema Typografie zu beschäftigen.
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Die gestalterische Federführung der Zeitung haben wir dabei Erik Spiekermann und Ferdinand Ulrich überlassen. Erik Spiekermann ist vieles in einem: Schriftgestalter,Typograf, Autor und Gründer von Designagenturen. Ferdinand Ulrich ist Typograf und Schrifthistoriker. Er betreibt Recherchen zur Geschichte der Typografie und arbeitet mit Spiekermann in der Galerie p98a.berlin als typografischer Gestalter.
Die Mutter aller Groteskschriften kommt aus Berlin
Mit Schrift ist es wie mit der Luft: Sie ist überall, aber man redet nur darüber, wenn sie schlecht ist. Jede(r) liest jeden Tag, ob gedruckt auf Papier oder elektronisch erzeugt auf Bildschirmen in allen Größen. Solange die Schrift lesbar ist, interessiert niemanden, woher sie kommt, wer sie gemacht hat und wie sie heißt. Wenn man aber selber am Computer schreibt, muss man sich entscheiden: nimmt man die oberste Schrift im Menü, die allgegenwärtige Arial, sucht man weiter unten nach Alternativen, die nicht so austauschbar sind, aber große Namen tragen wie Garamond, Bodoni oder Helvetica?
Alle diese Schriften haben eine Herkunft: einen Entwerfer, einen Hersteller, einen Vertrieb. Bis zur Ankunft des Computers auf jedem Schreibtisch und inzwischen in jeder Hosentasche wurden Schriften aus Blei gegossen und im Buchdruck gedruckt oder später von Hand gezeichnet und auf Film belichtet. Selbst die Hersteller von Schriften für unsere Computer nennen sich noch Schriftgießereien – auf Englisch natürlich und dann „digital foundries“.
Richtige Schriftgießereien gibt es nicht mehr, aber in Berlin finden sich noch Spuren eines Unternehmens, das einige Jahrzehnte lang das größte seiner Art in Europa war, wenn nicht sogar der Welt. Am Mehringdamm 43 (damals Belle-Alliance-Straße 88) lag der Eingang zur H. Berthold AG. Heute ist das der Mehringhof und nur einige verblichene Lettern an der Fassade im Hof sind übrig vom Ruhm dieser Firma, die 1858 gegründet wurde. Hermann Berthold stellte zunächst Messinglinien her und Werkzeuge für die Galvanoplastik. Gelernte Schriftsetzer kennen seine Erfindung des Winkelhakens mit Keilhebelverschluss, bedeutender war jedoch der Auftrag der deutschen Schriftgießereien an ihn, ein Urmaß zu erstellen, nach dem sich alle richten sollten. Der Bertholdsche Typometer ist seitdem die Grundlage für das „im deutschen Schriftgießereigewerbe gebräuchliche Maßsystem, nämlich 2660 Punkte gleich 1000,28mm“, wie es in einer Chronik des Hauses heißt. Auch wenn es dieses besondere Gewerbe nicht mehr gibt, ist das typografische Urmaß immer noch im Gebrauch bei Buchdruckern und Schriftsetzern.
Zum Beginn des Ersten Weltkriegs war Berthold durch Zukäufe, Übernahmen und eigene Gründungen u. a. in Stuttgart, Leipzig, Weimar, Wien, Danzig, Offenbach und sogar St. Petersburg und Moskau vertreten.
Die Erzeugnisse der Schriftgießereien waren auch nach dem Aussterben des Gewerbes nicht vergessen. In den 60 Jahren wurden die Schriften für den aufkommenden Fotosatz neu gezeichnet und ab Mitte der 80er für den Computer digitalisiert. Berthold war erfolgreich auch mit den neuen Techniken. In den 60erund 70erJahren des letzten Jahrhunderts dominierten Fotosatzgeräte aus Berlin weltweit den Markt des Qualitätssatzes. Diatype und Diatronic waren die Geräte, die jeder Setzer kannte. Bewährte Schriften aus der Bleisatzzeit wurden überarbeitet und neue kamen hinzu.
Günter Gerhard Lange (GGL genannt) war Bertholds künstlerischer Leiter nach dem 2.Weltkrieg und prägte das Schriftschaffen mit eigenen Entwürfen, vor allem aber mit der Förderung anderer Talente. Noch heute ist die Qualität der Schriften aus dem Hause ebenso sprichwörtlich wie seinerzeit die der Messinglinien von Hermann Berthold. Diese Leistung hatte ihren Preis, den nach der Revolution des Desktop Publishing weder Agenturen noch andere Gestalter bezahlen konnten oder wollten. Nach 135 Jahren musste die H. Berthold AG 1993 Konkurs anmelden. In den Schriften lebt der Name fort und im Deutschen Technikmuseum Berlin gibt es eine große Sammlung von Geräten und Dokumenten aus der Firmengeschichte.
Eine Schrift von Berthold hat alle diese Transformationen nicht nur überlebt, sondern wurde zum Vorbild und zur Vorlage einer der am weitesten verbreiteten Typen überhaupt. Die berühmtberüchtigte Helvetica geht auf die Akzidenz-Grotesk zurück, die in der Chronik von 1921 unter ihrem ursprünglichen Namen so erwähnt wird: „Im Jahre 1898 entstand die Accidenz-Grotesk, die einen Ruhmeskranz für sich verdient“. Zwar weiß niemand genau, wer diese Schrift gezeichnet und geschnitten hat und ob die gezeigte Version nicht schon bei einer anderen Gießerei unter anderem Namen erschienen war, aber im Laufe der Jahrzehnte wurde die AG– so ihr Spitzname unter Fachleuten – zu einer umfangreichen Schriftfamilie ausgebaut unter der Leitung von GGL.
Sie war so erfolgreich (also viel verkauft), dass in den 50er-Jahren die schweizerische Gießerei Haas eine eigene Variante zeichnen ließ, die Neue Haas Grotesk. Diese wurde vom deutschen Vertrieb in Frankfurt in Helvetica umbenannt und ist bis heute eine der meistgebrauchten Schriften. Mitte der 80er-Jahre ließ Microsoft eine eigene Version herstellen, bei der alle Zeichen die gleiche Breite wie die der Helvetica haben, aber etwas anders gezeichnet sind. Das hat den Buchstabenformen nicht unbedingt zum Vorteil gereicht, Microsoft aber Geld für Lizenzen gespart. Die Schrift heißt Arial, sie steht gleich oben im Menü, aber ganz unten im Rang nach ästhetischen Kriterien.
Anders die AG. Ihre robuste, nicht ebenmäßige aber gerade deswegen zeitlose Schönheit ist seit mehr als 100 Jahren in Mode. Jede Generation von Schriftentwerfern hat sich von ihr anregen lassen, mit mehr oder weniger Erfolg. Ehrliche Gestalter nennen die Quelle ihrer Inspiration, von der Helvetica über die Theinhardt zur Real: die Mutter aller Groteskschriften kommt aus Berlin und heißt Berthold Akzidenz-Grotesk.
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