Er war der Superminister im rot-grünen Kabinett von Bundeskanzler Gerhard Schröder: Wolfgang Clement (77), Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit von 2002 bis 2005. Sein SPD-Parteibuch hat er inzwischen zurückgegeben, aber die Hartz IV-Reformen, die er damals mit auf den Weg brachte, verteidigt er bis heute – gerade auch gegen neue Reformideen seiner ehemaligen Parteifreunde. Im Interview mit der Berliner Morgenpost greift er den Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) mit deutlichen Worten an – auch wegen des Volksentscheids zu Tegel. Clement gehört der Expertenkommission zur Prüfung des Weiterbetriebs am Flughafen Tegel an, die die Berliner FDP berufen hat.
Herr Clement, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller will Hartz IV durch ein solidarisches Grundeinkommen ersetzen. Ist so eine Reform notwendig?
Wolfgang Clement: Seit den Hartz-Reformen kämpfen die Sozialdemokraten mit sich selbst und gegen diese Reformen. Der Irrtum der SPD – und damit auch des Regierenden Bürgermeisters – ist anzunehmen, dass es einer Reform von Hartz IV bedarf. Wir brauchen grundlegende Bildungsreformen und eine Politik, die nachhaltig verhindert, dass immer wieder Menschen in Hartz IV hineinwachsen. Die Realität zeigt doch, dass unser Bildungssystem alles andere als erfolgreich ist. Wir haben Jahr für Jahr 50.000 junge Menschen ohne Schulabschluss und einige Hunderttausend, die ihre Ausbildung oder ihr Studium abbrechen. Ich bin ich strikt gegen Veränderungen bei den Hartz-Reformen und für mehr Investitionen in allen Bildungsbereichen.
Aber Müllers Reformvorschlag setzt vor allem bei den älteren Langzeitarbeitslosen an. Die will er als Hausmeister an Schulen oder in anderen öffentlichen Jobs unterbringen.
Diese Idee hat sich bereits in der Vergangenheit als Irrtum erwiesen. Während damals permanent viel Geld in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen investiert wurde, stieg die Arbeitslosigkeit seit der Jahrtausendwende stetig an. Erst die Hartz-Reformen haben diesen Trend gestoppt und vor allem die Langzeitarbeitslosigkeit gesenkt. Insgesamt kann ich die heutige SPD nicht mehr verstehen. Die Sozialdemokratie war einmal die Partei der Bildung. Heute ist sie die Partei von Reparaturen an überwiegend erfolgreichen Arbeitsgesetzen. Wer kann das begreifen?
Aktuell werden auch die Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger diskutiert, die gegen Auflagen verstoßen. Michael Müller zum Beispiel will sie abschaffen.
Das wäre ein Irrweg. Wir brauchen das Gegenteil: Die Sanktionen sollten eher noch konsequenter angewandt werden. In Frankreich führt Präsident Macron dieses Prinzip des Förderns und Forderns gerade ein. Es ist die Grundlage unserer Arbeitsmarktpolitik und beinhaltet die Erwartung, dass arbeitsuchende Menschen alles tun, um aus der öffentlichen Förderung so schnell wie möglich wieder herauszukommen. So geht das Zusammenspiel von Selbstverantwortung und sozialem Denken in einer freien Gesellschaft. Mir sind für die Arbeitsmarktreformen, die mir wahrhaftig nicht leichtgefallen sind, viele Vorwürfe gemacht worden. Trotzdem bin ich – wie die meisten Experten – überzeugt, dass sie richtig waren. Es ist verrückt: Präsident Macron führt in Frankreich ein, was der Regierende Bürgermeister trotz aller Erfolge hierzulande wieder abschaffen will.
Was ist denn jetzt vordringlich in der Bildungspolitik?
Das Wichtigste, aber keineswegs das Einzige, ist die frühkindliche Bildung. In Ballungszentren, wie dem Ruhrgebiet oder Berlin, kommen bis zu 40 Prozent der Kinder aus den sogenannten bildungsfernen Schichten. Wir schaffen zwar endlich deutlich mehr Betreuungsplätze, doch bekommen unsere Kinder damit auch wirklich die richtige Unterstützung? Weiterhin fehlen bundesweit Erzieher und Lehrer. In den Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, CSU und SPD wurden Mehrausgaben von 46 Milliarden Euro errechnet, davon sollen sechs Milliarden in Kitas, Schulen und Hochschulen gehen. Mein Gott, ist das armselig und riskiert die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.
Sie betonen die Verantwortung des Einzelnen. Aber was ist mit der Verantwortung des Staates für seine Bürger?
Natürlich gibt es diese Verantwortung des Staates für das Ganze. Zuerst muss aber erarbeitet werden, was schließlich verteilt werden soll. Die Sozialpolitik darf die Wirtschaftspolitik nicht dominieren, wie es zurzeit bei uns der Fall ist. Nehmen Sie die Rentendiskussion: Heute will man das Rentenniveau unverändert lassen, das Renteneintrittsalter aber nicht weiter erhöhen. Dabei ist es unvermeidlich, dass wir auch hierzulande bei stetig steigender Lebenserwartung länger als bisher arbeiten. Ich vermute, am Ende der Legislaturperiode 2021 wird niemand mit politischer Verantwortung die demografischen Fakten mehr missachten können.
Soll man besser das Renteneintrittsalter erhöhen oder das Rentenniveau senken?
Entscheidend ist, dass unser Rentensystem zukunftsfähig bleibt. Die wichtigste Antwort ist die Steigerung der Lebensarbeitszeit, sie wird 2050 nahe bei 70 Jahren liegen müssen.
Themenwechsel. Sie wohnen in Bonn. Wieso setzen Sie sich für die Offenhaltung des Flughafens Tegel ein?
Ich finde, dass wir zurzeit ziemlich viele Fehler in Deutschland machen. Als mich Berlins FDP-Fraktionschef Sebastian Czaja fragte, ob ich seine Expertenkommission unterstützen wolle, habe ich sofort zugesagt. Wenn ich sehe, dass man einen Fehler vermeiden helfen kann, bin ich gern zur Stelle.

Wieso muss denn der Flughafen Tegel offen bleiben?
Die Schließung geht zurück auf eine Entscheidung von 1996. Der Luftverkehr hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren aber entscheidend verändert, die Fluggastzahlen sind seitdem stark gestiegen und werden aller Voraussicht nach weiter stark ansteigen. Aus diesen Veränderungen muss man Konsequenzen ziehen – vor allem bei den Anforderungen an die Kapazitäten. Jeder Außenstehende sagt, dass es nur vernünftig ist, den vorhandenen Flughafen Tegel mit seinen zwei Landebahnen neben den zweien des BER zu nutzen.
Nun gibt es einen Volksentscheid zugunsten einer Offenhaltung ...
Ja, es gibt einen Volksentscheid – und ein Entscheid ist eine Entscheidung. Jetzt haben wir den geradezu klassischen Fall, dass die Politik unmissverständlich gefordert ist. Dabei muss ganz einfach gelten: Richte dich nach dem Volksentscheid, auch wenn du anderer Meinung bist!
Aber was hätte der Senat tun sollen? Es gibt doch klare, jahrzehntealte Beschlüsse, den innerstädtischen Flughafen zu schließen.
Der Regierende Bürgermeister an der Spitze des Senats muss anerkennen, dass die Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Entscheid eine andere Geschäftsgrundlage geschaffen haben. Die andere Geschäftsgrundlage heißt: Der Flughafen Tegel muss erhalten bleiben. Er muss nun alles ihm Mögliche tun, um diese Entscheidung der Mehrheit der Berliner durchzusetzen.
Am BER gibt es auch die Partner Bund und Brandenburg. Wie soll denn Berlin den Volksentscheid umsetzen?
Der Bund betrachtet den Flughafen BER eher als eine Sache der Hauptstadtregion. Das hat er schon zu meiner Zeit hier in Berlin getan. Leider, würde Gerhard Schröder heute wahrscheinlich auch sagen. Die neue Geschäftsgrundlage durch den Volksentscheid schafft, wie gesagt, eine neue Rechtslage. In einem ersten Schritt muss der Regierende Bürgermeister eine dementsprechende Verständigung mit Brandenburg über die Offenhaltung von Tegel zu erreichen suchen. Im Konfliktfall stünde dafür aber auch der Rechtsweg zur Verfügung. Doch ich hoffe, die Vernunft setzt sich durch – die Berliner haben den Weg dahin geöffnet.
Und der Bund? Der neue Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer hat sich für die Offenhaltung Tegels ausgesprochen. Die Bundesregierung als Ganzes hält an der Schließung aber fest. Ist das also nur eine private Meinungsäußerung des Ministers?
Herr Scheuer äußert sich als zuständiger Bundesverkehrsminister sehr klar und überzeugend. Die Flughafenstrukturen in Deutschland sind nicht die besten. Wir verlieren Flugverkehr an europäische Nachbarn. Die Bundesregierung wäre gut beraten, dieses Thema noch einmal ausführlich zu erörtern. Die Führung in dieser Sache aber haben eben Berlin und Brandenburg.
Sie haben sich immer skeptisch geäußert, wenn es um eine Zusammenarbeit der SPD mit der Linkspartei geht. In Berlin regiert Rot-Rot-Grün. Die Wirtschaft boomt, die Arbeitslosigkeit sinkt. Rot-Rot-Grün funktioniert also doch?
Nein, Berlin funktioniert! Berlin hat eine unvergleichliche Anziehungskraft, es ist eine fantastische Stadt, die viele Menschen, vor allem junge Leute fasziniert. Wissen Sie, ich bin geprägt durch die deutsche Geschichte der Nachkriegszeit und stehe in Kontakt mit älteren Sozialdemokraten mit der besonderen ostdeutschen Geschichte auf dem Buckel. Ich tue mich nicht so leicht damit, die DDR-Geschichte zu vergessen. Das erklärt meine Aversion gegen solche Koalitionen, auch auf Landesebene. Die Entscheidung von Wählern akzeptiere ich natürlich. Aber ich stehe aufseiten derer, die überlegen, wie man beim nächsten Mal eine andere Mehrheit herbeiführen könnte.
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