Fall Anis Amri

Verdacht auf Aktenmanipulation - Die Zweifel bleiben

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Der Bericht über Anis Amris Drogengeschäfte. Strafrechtlich ist die Angelegenheit erledigt (Archiv)

Der Bericht über Anis Amris Drogengeschäfte. Strafrechtlich ist die Angelegenheit erledigt (Archiv)

Foto: Frank Lehmann

Die Staatsanwaltschaft stellt Ermittlungen gegen Polizisten wegen Aktenmanipulation-Verdachts ein. Doch es gibt „Auffälligkeiten“.

Berlin. Als Innensenator Andreas Geisel (SPD) am 18. Mai vergangenen Jahres vor die Presse trat, verkündete er fast schon Unglaubliches: Ein Beamter des Landeskriminalamtes (LKA) habe im Fall des Breitscheidplatz-Attentäters Anis Amri nachträglich möglicherweise einen Bericht manipuliert, um die Drogengeschäfte des Tunesiers zu verharmlosen. Der Polizist habe damit womöglich kaschieren wollen, dass man Amri bei konsequenter Ermittlungsarbeit vielleicht in Untersuchungshaft hätte nehmen können, so damals der Verdacht. Der Anschlag hätte dann vielleicht verhindert werden können.

Geisel erstattete Strafanzeige – und die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen Strafvereitelung im Amt und Fälschung beweiserheblicher Daten. Die auf den Fall angesetzten Juristen, Oberstaatsanwalt Sjors Kamstra und Staatsanwalt Holger Brocke, werteten Akten aus, vollstreckten sieben Durchsuchungsbeschlüsse, befragten 38 Zeugen. Am Mittwoch verkündeten sie das Ergebnis: Es dürfte jene enttäuschen, die gehofft hatten, dass nach den teils unfassbaren Behördenversäumnissen endlich einer der Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wird. Denn die Ermittlungen wurden einstellt. Der für eine Anklage erforderliche hinreichende Tatverdacht sei nicht nachweisbar gewesen.

Kriminaloberkommissar L. und ein weiterer Beamter, gegen den ermittelt wurde, dürften aufatmen – und jene, die Geisel vorwarfen, die Polizisten zu Unrecht an den Pranger gestellt zu haben, sehen sich bestätigt. Es sei klug, keine Vorverurteilung vorzunehmen. „Das gilt für den Innensenator ebenso wie für die laufenden parlamentarischen Untersuchungen“, sagt der Vorsitzende des Amri-Untersuchungsausschusses, Burkard Dregger (CDU). Die Gewerkschaft der Polizei kritisiert, das Verfahren sei „zusammengeschustert“ gewesen, „um irgendjemanden als Sündenbock für strukturelle Unzulänglichkeiten verantwortlich machen zu können“.

Der Innensenator kontert die Vorwürfe

Innensenator Geisel, leistet nicht Abbitte. Er kontert. Ein strafrechtliches Vergehen im Sinne des Vorsatzes habe zwar nicht mit letzter Sicherheit nachgewiesen werden können. Aber: „Alle erhobenen Vorwürfe wurden bestätigt.“ Ein Satz, der angesichts der eingestellten Ermittlungen erstaunt. Auf den ersten Blick. Bei näherer Betrachtung kann Geisel die Erläuterungen der Staatsanwälte aber tatsächlich als Bestätigung betrachten. Denn die Juristen führten zwar aus, dass den Beamten im strafrechtlichen Sinne kein Vorwurf zu machen ist. Sie sagten aber auch, dass sie zahlreiche „Auffälligkeiten“ entdeckten – die auf die Arbeit von Kriminaloberkommissar L. kein gutes Licht werfen.

Der Reihe nach: Ausgangspunkt der Ermittlungen war ein LKA-Bericht über Amris Drogengeschäfte. Er datiert vom 1. November 2016. Kriminaloberkommissar L. verfasste ihn aber erst Anfang 2017, nach dem Anschlag, und leitete ihn erst am 19. Januar 2017 der Staatsanwaltschaft zu. Es bestehe der Verdacht, dass Amri „Kleinsthandel mit Betäubungsmitteln“ betreiben könne, heißt es darin. Man habe den Tunesier aber bei „keiner Handelstätigkeit“ beobachten können. Die unausgesprochene Botschaft: Amri war ein kleiner Fisch. Für einen Haftbefehl hätten die Erkenntnisse nicht ausgereicht. Dass die Ermittlungen nicht vorangetrieben wurden – alles nichts so schlimm.

Bruno Jost, der Amri-Sonderbeauftragte des Senats, stellte allerdings fest, dass es eine weitere Version des Berichts zu Amris Drogengeschäften gab. Auch diese datierte vom 1. November 2016. Der Text war aber ausführlicher, und die Kollegin von L. führte nicht nur sechs, sondern 72 Protokolle aus der Überwachung von Amri Telekommunikation auf.

Und: Die Kommissarin kam zum Ergebnis, dass Amri „gewerbsmäßigen, bandenmäßigen BTM-Handel betreibt“. BTM heißt Betäubungsmittel, also Drogen. Aufgrund dieser Einschätzung hätte die Staatsanwaltschaft zumindest weitere Ermittlungen anstrengen können, mit dem Ziel, einen Haftbefehl zu erwirken, um Amri aus dem Verkehr zu ziehen. Doch die Chance verstrich. Denn der Ermittlungsführer L. leitete den Bericht der Kollegin nicht der Staatsanwaltschaft zu. Ein schwer zu erklärendes Versäumnis. Eine Motivation, Amris Drogengeschäfte nachträglich kleinzuschreiben, hätte L. also gehabt. Um wegen Strafvereitlung und Fälschung beweiserheblicher Daten Anklage zu erheben, hätte die Staatsanwaltschaft aber einen Vorsatz nachweisen müssen. Dieser Nachweis sei nicht zu führen gewesen, teilte die Staatsanwaltschaft mit.

Amris Drogengeschäfte „massiv heruntergeschrieben“

Ein korrektes Vorgehen attestierten die Juristen den LKA-Beamten aber nicht. Im Gegenteil. Das Verfahren wegen Amris Drogengeschäften sei „nicht sachgerecht und nicht zeitgerecht“ bearbeitet worden. Das Ausmaß von Amris Drogengeschäften sei in der geänderten Berichtsversion zudem „massiv herunter geschrieben worden“, sagte Oberstaatsanwalt Kamstra. Die Ermittlungen habe man trotzdem einstellen müssen. Staatsanwalt Brocke: „Nicht jede unsachgemäße oder vielleicht auch unrichtige, fehlerhafte Sachbearbeitung durch die Polizei ist gleichzeitig strafbewehrt.“

Die Einstellung der Ermittlungen erfolgte wenige Wochen nach der Amtseinführung von Margarete Koppers als Leiterin der Generalstaatsanwaltschaft. Zuvor war sie stellvertretende Polizeipräsidentin - und somit Chefin der beschuldigten LKA -Beamten. Auf das Ergebnis der Ermittlungen habe sie in ihrem neuen Amt keinerlei Einfluss genommen, versicherte Staatsanwalt Brocke.

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