Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller geht auf Distanz zur bisherigen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Agenda 2010.

Als Bundesratspräsident sieht Michael Müller die Chance, auch bundespolitisch Akzente zu setzen. Berlins Regierender Bürgermeister und SPD-Landesvorsitzender will das Jahr an der Spitze der Länderkammer nutzen, um neue Wege in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik anzuregen.

Herr Müller, Sie haben ein solidarisches Grundeinkommen als neues sozial- und arbeitsmarktpolitisches Instrument vorgeschlagen. Ist das System von Hartz IV gescheitert, das ja immerhin von Ihrer Partei ersonnen und über viele Jahre gegen Kritik verteidigt wurde?

Michael Müller: Man muss zur Kenntnis nehmen, dass jenseits der Erfolge der Agenda-Reformen es auch 15 Jahre danach keine gesellschaftliche Akzeptanz für Hartz IV gibt. Die brauchen wir aber in Zeiten des Umbruchs. Deswegen ist es angesichts der Digitalisierung und der sich damit rasant verändernden Arbeitswelt Zeit, Schluss zu machen mit dem bisherigen System und es zu ergänzen durch ein neues Recht auf Arbeit.

Wie unterscheidet sich Ihr Modell von einem bedingungslosen Grundeinkommen, wo jeder einen festen Grundbetrag an Geld erhalten soll?

Dem solidarischen Grundeinkommen liegt ein echtes Arbeitsverhältnis zugrunde. Es gibt einen normalen Arbeitslohn, es werden Sozialabgaben geleistet, man erwirbt Rentenansprüche. Es wird in beiden Richtungen Solidarität geübt: Der Staat ist solidarisch, weil er Menschen unterstützt und ihnen Arbeit gibt, die sie brauchen. Und umgekehrt bringen diese ihre Arbeitskraft ein in Bereichen, die unserer Gemeinschaft zugutekommen.

Wie hoch soll das Einkommen denn sein?

Wir orientieren uns am Mindestlohn. Da landet man als Single in Vollzeit bei etwa 1500 Euro brutto oder 1200 Euro netto. Wenn man Kinder hat, kommt noch das Kindergeld dazu.

Was tun Sie in Ihrem Modell mit Leuten, die keinen solchen Job wollen? Soll es Sanktionen geben?

Es geht um Freiwilligkeit, keineswegs um einen Arbeitszwang. Wir haben in einer Kommune so viele Aufgaben, dass man das gut zusammenführen könnte. Wer nach einem Jahr ohne Job in den Hartz-IV-Bezug rutschen würde, bekäme ein Angebot für eine neue Tätigkeit. Wer eine Arbeit nicht aufnehmen will oder kann, bekommt auch weiterhin die Sozialleistungen, die wir kennen. Mir geht es um einen Schritt nach vorne.

Die Linke hatte unter Rot-Rot einen öffentlichen Beschäftigungssektor (ÖBS) aufgebaut mit ähnlichen Ideen. Der wurde von der SPD unter der großen Koalition abgeschafft. Man wollte sich auf die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt konzen­trieren, hieß es seinerzeit. Jetzt proben Sie die Rolle rückwärts. Warum?

Tatsächlich gab es seinerzeit ähnliche Gedanken. Aber man kommt ja in der Politik immer wieder in Phasen, in denen man sich neu verabreden muss. Die Digitalisierung kann viele Jobs kosten auch in Sektoren, von denen wir das noch kaum ahnen. Deswegen werden die Arbeitslosen von morgen womöglich andere sein als die von heute. Darauf müssen wir eine Antwort geben. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass jemand mit 50 oder 55 raus ist aus dem Arbeitsleben. Es wird aber auch nicht möglich sein, jeden so weiterzuqualifizieren, dass er eine komplett neue Tätigkeit in der digitalisierten Arbeitswelt aufnehmen kann. Hier wollen wir ein Angebot machen, das sich an jeden richtet. Wir haben in Berlin so viele Aufgaben: Schulhausmeister, Schulsekretärin, Begleiter in Bus und Bahn, Nachmittagsbetreuung für Kinder und Jugendliche. Da brauche ich nicht unbedingt Fachpersonal, sondern unterstützende Leistungen. Ich glaube, das ist für viele Menschen interessanter als Pakete für den Online-Versand zu packen – im Übrigen Tätigkeiten, die auch mehr und mehr automatisiert werden.

Aber wenn Berlin Schulhausmeister braucht, dann stellen Sie doch einfach welche ein. Wer hindert Sie daran, solche Stellen auch Arbeitslosen zu geben?

Wir haben derzeit diese Stellen nicht und finden keine Leute dafür. Das solidarische Grundeinkommen soll auch ein Anreiz sein, rauszukommen aus der Schleife der Langzeitarbeitslosigkeit. Es geht um gezielte Ansprache. Bisher versuchen die Jobcenter, Leute mit einem großen finanziellen und personellen Aufwand für den ersten Arbeitsmarkt in der Wirtschaft weiter zu qualifizieren. Es wäre gut, wenn sie auch sagen würden: Hier haben wir andere Tätigkeiten in der Kommune. Damit kannst du dich besser stellen, bekommst mehr Geld als bei Hartz IV, tust etwas für deine Rente und leistest Sinnvolles.

Aber entsteht da nicht ein öffentlicher Dienst für Arme?

Es geht um Bereiche, die sinnvolle Unterstützung gebrauchen können. Der Grundgedanke ist ein gemeinsamer Anspruch, mit Leistungen des Staates für die Bürger voranzukommen. Dafür brauchen wir Unterstützung.

Was braucht eine Schule oder eine Kita, um besser für die Kinder zu arbeiten?

Sie braucht Fachkräfte, um ihren pädagogischen Anspruch umsetzen zu können. Und sie braucht Entlastung in den Dingen, die zwar notwendig sind, aber Zeit und Ressourcen binden, beispielsweise Verwaltungsaufgaben, Organisatorisches. Für diese Aufgabe kann ich gezielt Leute ansprechen.

Das ÖBS-Modell wurde ausgebremst, weil der Bund seinerzeit nicht mitmachte, die Kosten für Hartz IV für die Lohnzahlung einzusetzen. Deshalb war der öffentliche Beschäftigungssektor sehr teuer für Berlin. Wäre das jetzt anders?

Es müsste integriert werden. Verwaltungs- und Personalkosten für Hartz müssen zusammengeführt werden mit einem neuen Budget. Wir haben, unterstützt durch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), in Beispielrechnungen untersucht, wie man in ein solches System einsteigen kann, zunächst mit 100.000 oder 150.000 Arbeitslosen. Das DIW geht davon aus, dass es für 100.000 Arbeitslose etwa 500 Millionen Euro zusätzlich kosten würde.

Ist dieses Geld denn vorhanden?

Auf der Bundesebene wird auch über neue Wege nachgedacht. Im Koalitionsvertrag haben wir ein Vier-Milliarden-Euro-Programm für 150.000 Langzeitarbeitslose. Das geht deutlich über das hinaus, was wir brauchen würden, um die gleiche Anzahl von Langzeitarbeitslosen in das solidarische Grundeinkommen zu bringen. Es wird noch viele Diskussionen geben um die Systematik. Aber wir werden in eine Phase eintreten, in der Menschen in ihren jetzigen Arbeitsplätzen keine Perspektive haben. Dafür muss es Ideen geben jenseits der klassischen Sozialpolitik und des Verwaltens von Langzeitarbeitslosigkeit in Hartz IV.

Noch brummt der Arbeitsmarkt. Auch bei einfachen Tätigkeiten steigt die Beschäftigung. Sind am Ende die noch verbliebenen Langzeitarbeitslosen in der Lage, mit der nötigen Sozialkompetenz Schulhausmeister oder Jugendbetreuer zu werden?

Bei einigen mag das nicht so sein. Aber ich würde den noch 160.000 Berliner Arbeitslosen – darunter sind um die 46.000 länger als ein Jahr arbeitslos – nicht pauschal unterstellen, dass sie nicht arbeiten wollten oder könnten. Viele würden eine Tätigkeit übernehmen, aber nicht als Ein-Euro-Jobber oder Leiharbeiter. Für diese Menschen brauchen wir sinnvolle Arbeitsplätze. Das wird nicht sofort das Problem der 160.000 Berliner Arbeitslosen lösen. Aber wenn wir als ersten Schritt 5000 oder 10.000 neue Stellen schaffen, die uns allen zugutekommen, hätten wir doch schon viel erreicht.

Wollen Sie Ehrenamt bezahlen, zum Beispiel Trainer in Sportvereinen?

Bei Sportvereinen sollte das klassische Ehrenamt mit der Pauschale für Übungsleiter im Vordergrund stehen. Aber was ist mit der Bürokratie, die das Ehrenamt oft überfordert? Wenn jemand nach einem Acht-Stunden-Arbeitstag noch zwei Stunden mit den Jungs und Mädchen Fußball trainiert, will er nicht noch eine Stunde Bürokram machen, um Kosten abzurechnen und die Plätze zu buchen. Dann kriegen Leute schlechte Laune. Das demotiviert. Hier könnte man das Ehrenamt gezielt entlasten, indem wir eine Verwaltungskraft über das solidarische Grundeinkommen finanzieren.

Wenn Sie Ihr Modell nicht durchsetzen, was müsste dann in den Arbeitsagenturen passieren?

Viele Menschen haben das Gefühl, dass die Jobcenter nach der Methode „Ganz oder gar nicht“ arbeiten: Entweder du bist bereit, einen ganz neuen Beruf zu erlernen oder wir können dir nicht helfen. Da ist aber ein Zwischenschritt nötig. Mit Mitte oder Ende 50, nach 30 Jahren Arbeit, haben viele Menschen nicht mehr die Kraft für diesen völlig neuen Weg. Es fehlt oftmals ein lebensnahes Vermitteln von Arbeitskräften.

Ist das nicht aber das gleiche wie früher die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen? Vor einigen Jahren wurden über ABM vor allem im Osten Tausende Leute beschäftigt.

Natürlich ist das ein verwandter Ansatz. Menschen bekommen mehr Geld als die reine Sozialleistung und tun etwas dafür. Es geht ja nicht nur um das Mindeste zum Leben. Das werfe ich auch dem CDU-Minister Jens Spahn vor, der sagt, mit Hartz IV sei man nicht arm. Der Mindestbedarf ist natürlich abgedeckt in unserer Gesellschaft. Man verhungert nicht mit Knäckebrot und Tomaten. Aber es geht um würdige Beschäftigung zu einem würdigen Lohn. Wenn wir jetzt wieder organisieren, was wir so ähnlich schon mal hatten, muss man das nicht diffamieren. Aber nochmal: Beim solidarischen Grundeinkommen geht es um ganz normale Jobs, vor allem im kommunalen Bereich. Mit Arbeitsverträgen, Sozialabgaben und ohne zeitliche Befristung. Das macht den Unterschied zu ABM und auch ÖBS.

Könnte nicht auch Berlin solch ein Modell aufsetzen oder müssen Sie auf die Bundesregierung warten?

Finanziell ginge das vielleicht, aber wir greifen ja auf die Kosten des Sozialsystems zurück, die auch vom Bund bezahlt werden. Insofern müsste es wenigstens das begleitende Einverständnis des Bundes geben. Und: Das solidarische Grundeinkommen ist eine Idee aus Berlin für die gesamte Bundesrepublik. Ich will die Gerechtigkeitslücke von Hartz IV durch eine neue soziale Agenda schließen!

Rathaus-Dialog: Unter diesem Titel lädt der Regierende Bürgermeister in regelmäßigen Abständen zu Diskussionsrunden über aktuelle Themen und Zukunftsfragen ins Rote Rathaus ein. Am Mittwoch geht es um Müllers Vorschlag für ein solidarisches Grundeinkommen als Einstieg in den Ausstieg aus dem bisherigen Hartz-IV-System.

Experten Die Einführungs­rede hält der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hermann Parzinger. Anschließend wird neben weiteren Fachleuten der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, mit Müller über sein Konzept diskutieren.

Der Rathaus-Dialog findet am Dienstag, den 20. März 2018, um 19 Uhr statt. Im Abschluss wird es einen Empfang geben. Ort: Festsaal im Roten Rathaus, 10178 Berlin, Rathausstraße 15. Karten für Leser Die Berliner Morgenpost vergibt am heutigen Sonntag um 11 Uhr an die ersten Anrufer zehn Mal zwei Karten für die Veranstaltung. Sie hinterlassen bitte Ihren Namen, die Tickets erhalten Sie am Mittwoch am Haupteingang zum Roten Rathaus. Bitte anrufen unter Tel. 88 72 77 871.

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