Die Wolken hängen tief in den Bergen. Lucas Flöther steht am Mittwochnachmittag auf einer Piste irgendwo in den österreichischen Alpen. Der 44 Jahre alte Jurist hat in den vergangenen Monaten die insolventen Fluggesellschaften Air Berlin und Niki betreut. Jetzt kann er endlich wieder durchatmen. Ein paar Stunden später kommt Lucas Flöther in der warmen Berghütte an. Die anderen aus seiner Gruppe sind längst dort. Seit seiner Kindheit läuft Flöther schon Ski. Nebel und dicke Schneeflocken haben ihn deswegen nicht von der Abfahrt abgehalten. „Ich bin nicht nur ein Schönwetter-Skifahrer“, sagt Flöther. Während er diesen Satz ausspricht, scheint es fast so, als habe er sich an unbequeme Situationen gewöhnt. Die vergangenen Monate haben den Rechtsanwalt gefordert.
Auch im Urlaub kommt Lucas Flöther allerdings kaum zur Ruhe. Blackberry und Tablet hat er fast immer dabei. Seine Frau Lilit, die als Oberärztin am Uniklinikum in Halle an der Saale arbeitet, seine fünfjährige Tochter und sein zehnjähriger Sohn haben sich längst daran gewönnt. „Fast jeden Tag stehen wichtige Entscheidungen an. Ich muss einfach erreichbar sein“, erklärt er. Wenn Flöther aus dem Urlaub zurück ist, wird er weiter für die Interessen der Air-Berlin-Gläubiger eintreten.
Die derzeit laufenden Versteigerungen von zahlreichen Artikeln aus dem Bestand der Airline ziehen viele Liebhaber an. Die Auktionen sollen einige Hunderttausend Euro einbringen. Das Geld wird dringend gebraucht.
Hauptaktionär von Air Berlin stoppt seine Zahlungen
Ein Anruf an einem lauen Sommerabend Mitte August 2017 hat den Juristen Lucas Flöther zum wichtigsten Mann in einem der größten Insolvenzverfahren der deutschen Nachkriegsgeschichte gemacht: Flöther war gerade in Halle, um den Geburtstag eines Freundes zu feiern. Dann klingelt das Telefon. In Berlin sitzen an diesem Freitagabend Analysten, Berater, Rechtsanwälte und die Chefetage von Air Berlin zusammen. Die finanzielle Lage der Fluggesellschaft ist bereits seit Monaten kritisch, aber jetzt geht es nicht mehr weiter. Etihad Airways, der in den Vereinigten Arabischen Emiraten beheimatete Hauptaktionär von Air Berlin, will kurzfristig seine millionenschwere Zuschusszahlungen stoppen. Die Geschäftsführer von Air Berlin planen, nach dem Wochenende Insolvenz anzumelden. Lucas Flöther erfährt, dass er im Gespräch ist, das Verfahren zu betreuen. Nach dem Telefonat legt er auf, atmet tief durch und setzt sich wieder an die Festtafel. Irgendwann flüstert er seiner Frau die Neuigkeit zu. Die Insolvenz von Air Berlin soll in Eigenverwaltung ablaufen. Flöther ist Spezialist für diese Sonderform. Er wird zusagen.
Doch was in den Monaten danach geschieht, war kaum vorhersehbar. Wenn Flöther heute, also mit einigen Wochen Abstand, über diese letzte Zeit redet, fällt auch das Wort „Achterbahnfahrt“. Das hatte der Jurist in seiner bisherigen Karriere noch nicht erlebt: Erst die Insolvenz von Air Berlin, dann das Rangeln um Niki, der österreichischen Tochtergesellschaft von Deutschlands einst zweitgrößten Airline.
Es war mitten in der Nacht, als Lucas Flöther am 23. Januar dieses Jahres einen winzigen Kopierraum in einer Wiener Anwaltskanzlei betrat. Der Insolvenzverwalter, der in den Wochen zuvor das vorläufige deutsche Verfahren von Niki geführt hatte, war nicht alleine. Mit einem Berater will er die Angebote der Interessenten abklopfen. Man braucht einen Ort, an dem man in Ruhe reden kann. Denn in den vergangenen Stunden war ein regelrechtes Wettbieten um die Airline ausgebrochen. Jetzt stehen die beiden Männer in dem Kabuff, lehnen an dem Kopierer und reden über nackte Zahlen. Insgesamt 15 Stunden feilschen verschiedene Interessenten in dieser Nacht um Niki: Der ehemalige Formel-1-Rennfahrer Niki Lauda will die Airline gern kaufen, ebenso wie Vueling, die Billigtochter des britisch-spanischen Luftfahrtkonzerns IAG, und die irische Low-Cost-Airline Ryanair. Am frühen Morgen erhält Lauda dann den Zuschlag. Für etwa 47 Millionen Euro bekommt er die Fluggesellschaft, die er 2003 gegründet hatte, zurück. Lucas Flöther gibt nach dieser Nacht einen gemeinsame Pressemitteilung mit seiner österreichischen Kollegin Ulla Reisch heraus. Man betont die gute Zusammenarbeit und die erfolgreiche Suche nach einem Kompromiss.
Lucas Flöther ist gut im Moderieren unterschiedlicher Interessen. Im täglichen Geschäft tritt der hagere Mann mit der runden Brille zurückhaltend auf. Seine Kontakte und sein guter Ruf öffnen ihm bei den Gläubigern die Türen. Gleichzeitig gilt der Hallenser als unbestechlich. Genau das ist für die Gerichte entscheidend. Mit der Zahl der Verfahren, die der Jurist begleitet, wächst auch seine Kanzlei. Flöther&Wissing sitzt noch immer in Halle, hat deutschlandweit aber mittlerweile elf Standorte und mehr als 100 Mitarbeiter. „Ein Verwalter ist nur so gut, wie das Team, das hinter ihm steht“, sagt Lucas Flöther. Auch beim Niki-Verkauf kann er sich auf seine Mitarbeiter verlassen.
Und doch bleibt ein bitterer Nachgeschmack: Denn ursprünglich hatte er für Niki einen ganz anderen Plan. Nach dem Telefonat im Sommer war Lucas Flöther in ein Büro in der Air-Berlin-Zentrale am Saatwinkler Damm gezogen. Als vorläufiger Verwalter in dem Insolvenzverfahren der Airline saß er dort auch, um schnell reagieren zu können. Fast fünf Monate später, am Nachmittag des 13. Dezember 2017, ist Lucas Flöther guter Dinge: Air Berlin fliegt zwar nicht mehr, aber die Tochter Niki ist noch in der Luft. Flöther will die Airline an Lufthansa verkaufen. Der deutsche Luftfahrt-Platzhirsch hatte fast 200 Millionen Euro geboten für Landerechte, Maschinen und Mitarbeiter. Das Geschäft muss aber noch von der Europäischen Kommission abgesegnet werden. Nicht nur Flöther hofft vor Weihnachten auf grünes Licht, auch die Bundesregierung. Schließlich soll mit dem Niki-Verkauf ein Großteil des vom Bund gewährten Übergangskredits für Air Berlin in Höhe von 150 Millionen Euro zurückgezahlt werden.
Doch Europas Wettbewerbshüter durchkreuzen die Pläne. Flöther erfährt an diesem Nachmittag zunächst von EU-Beamten, dass aus dem Deal nichts werde. Das Argument aus Brüssel: Würde Lufthansa Niki übernehmen, befürchtet die EU ein Monopol auf vielen Strecken – und teurere Ticket-Preise für die Fluggäste.
„Wir waren sprachlos“, sagt Flöther heute über diesen Moment in der Zentrale am Saatwinkler Damm. Schnell ist dem erfahrenen Juristen klar: Auch die Insolvenz von Niki ist jetzt nicht mehr zu verhindern. Nur wenige Stunden später bestellt ihn das Amtsgericht Charlottenburg zum vorläufigen Insolvenzverwalter von Niki. Lucas Flöther muss jetzt einen Käufer suchen, für eine Fluggesellschaft, die jetzt nicht mehr fliegt – und daher jeden Tag mehrere Hunderttausend Euro verschlingt. Die Zeit drängt. Kurz vor Weihnachten entscheidet der Gläubigerausschuss für Vueling. Die spanische Tochter des IAG-Konzerns soll nun den Zuschlag erhalten. 36,5 Millionen Euro inklusive Anschubfinanzierung ist der Deal schwer. Das Closing – also die abschließende Unterschrift auf dem Vertrag – soll, so heißt es, bis Februar stattfinden, Niki dann im März wieder abheben.
Zum Jahreswechsel nimmt sich Lucas Flöther Zeit für seine Familie. Durchatmen, denkt er. Doch erneut kommt alles anders. Es ist wie eine Achterbahnfahrt.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten arbeitet Lucas Flöther als Insolvenzverwalter. Während seines Studiums an der Universität in Halle ist er einer der wenigen, die in den Vorlesungen zum Insolvenzrecht tatsächlich zuhören. Die letzten Zuckungen von schlecht laufenden Firmen hatten noch nie die Strahlkraft wie etwa Straf- oder Konzernrecht, sagt Flöther heute. Das Bild des Insolvenzverwalters sei früher eher das eines Liquidators gewesen. Und niemand wolle derjenige sein, der einem Unternehmen den Todesstoß versetzt. Doch der junge Student erkennt in Insolvenzverfahren die Chance, Unternehmen zu entschulden und somit zu sanieren.
Die Anwälte, zu denen Lucas Flöther am Anfang seiner Karriere aufschaut, sitzen in Amerika. Dort ist die Insolvenz in Eigenverwaltung ein gern gewähltes Instrument. Das deutsche Insolvenzrecht hingegen ließ das damals nicht zu. Bei der Eigenverwaltung bleibt das Management im Amt. So, sagt Flöther, würden die besten Chancen bestehen, das Unternehmen noch zu sanieren. Kosten würden gespart, Know-how bleibe erhalten. Die Chancen für die Gläubiger, etwas von ihrem Geld wiederzusehen, seien viel höher. An der Uni, Ende der Neunzigerjahre, erkennt sein Doktorvater Stefan Smid, dass sich auch im deutschen Insolvenzrecht etwas tut. Mit seinem Professor schreibt Lucas Flöther später sogar ein Buch über die Eigenverwaltung in der Insolvenz.
Eine kleine Fleischerei ist sein erster Insolvenz-Fall
1999 ist eine kleine Fleischerei in Hettstedt, Sachsen-Anhalt, sein erster Fall. Zu diesem Zeitpunkt ist Flöther gerade mal 25 Jahre alt und Deutschlands jüngster Insolvenzverwalter. Schon 2012 ist er ein gefragter Sanierungsspezialist. Damals öffnet eine Reform des deutschen Insolvenzrechts der Eigenverwaltung die Tür. Seitdem können auch die Gläubiger den Insolvenzverwalter auswählen, das Gericht prüft den Vorschlag und entscheidet. Lucas Flöther findet das richtig. „Es geht immer um das Geld der Gläubiger, um nichts anderes“, erklärt er. Die Gehälter der Arbeitnehmer schließt er ausdrücklich darin ein. Flöther habe stets auch für die betroffenen Mitarbeiter gute Lösungen im Blick, sagen Vertreter der Gewerkschaften.
So auch bei Niki. Der Jahreswechsel ist vorbei. Mitte Januar 2018 verhandelt Lucas Flöther plötzlich mit einem Richter am österreichischen Landgericht Korneuburg bei Wien und versucht, das Schlimmste zu verhindern. Ein Notfall. Das Fluggastrechteportal Fairplane hatte zuvor Einspruch gegen das in Deutschland geführte Insolvenzverfahren für Niki eingelegt. Niki sei eine Airline mit Sitz in Wien, argumentierten die Verbraucherschützer, deswegen müsse auch das Verfahren in Österreich geführt werden. Flöther sieht das anders, macht seine Sicht dem Gericht deutlich. Alle wichtigen Entscheidungen seien doch in der Konzernzentrale von Air Berlin in der deutschen Hauptstadt gefällt worden. Niki habe noch nicht einmal ein eigenes Ticket-System gehabt, um Buchungen zu verwalten.
Lucas Flöther verlässt Wien in dem Glauben, das Insolvenzverfahren in Deutschland zu Ende führen zu können. Einige Tage später erfährt er aus den Medien: Das österreichische Gericht zieht das Insolvenzverfahren an sich. Und setzt mit Ulla Reisch eine neue Verwalterin ein. Flöther geht in sich, bespricht die Lage mit seinen Vertrauten und beschließt: Um den Verkauf an Vueling abzuschließen, will er mit Reisch zusammenarbeiten. Doch das Gericht beschließt auch, ein neues Bieterverfahren zu eröffnen. Niki Lauda – im ersten Verfahren unterlegen – sieht nun seine große Chance – und erhält später den Zuschlag. Die Entscheidung fällt in der Wiener Anwaltskanzlei. In Deutschland setzen jetzt viele Gläubiger weiter auf Lucas Flöther und hoffen, noch etwas Geld aus der Insolvenzmasse von Air Berlin zu erhalten. Vielleicht zieht der Anwalt deswegen bald gegen den früheren Anteilseigner Etihad vor Gericht. Denn erst durch den abrupten Zahlungsstopp der Golf-Airline war Air Berlin im letzten Sommer in die Pleite geschlittert. Dabei hatte Etihad noch Monate vorher schriftlich erklärt, die Berliner weiter unterstützen zu wollen.
Seine Vorlesungen finden in einem größeren Hörsaal statt
Doch Lucas Flöther ist kein Draufgänger, er lässt sich beraten, prüft genau und wägt ab. Vieles aus seiner täglichen Arbeit versucht er auch dem Juristen-Nachwuchs an der Universität Halle zu vermitteln. Dort, wo er einst selbst gut zuhörte, steht er jetzt jeden Montag und redet über Insolvenzrecht. Das Interesse der Studenten an den Ausführungen des Anwalts ist stark gewachsen, seitdem Flöther den Fall Air Berlin übernommen hat: Seit Herbst finden seine Vorlesungen in einem größeren Hörsaal statt.
Warum Air Berlin schon fast vergessen ist
Air Berlin-Insolvenzverfahren: Die Hoffnung stirbt zuletzt
Mehr als eine Million Gläubiger wollen Geld von Air Berlin
Insolvenz bremst Wachstum an Berliner Airports