Prozess

Begingen die Kudamm-Raser Mord? Der BGH muss entscheiden

| Lesedauer: 11 Minuten
Michael Mielke
Der Prozess um die Kudamm-Raser als Chronik

Die Kudamm-Raser: Vom tödlichen Unfall bis zur Verurteilung

Der Bundesgerichtshof hat das Urteil gegen die Kudamm-Raser aufgehoben. Die Angeklagten können auf wesentlich mildere Strafen hoffen.

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Ob das Mord-Urteil gegen die Kudamm-Raser rechtens ist, muss jetzt der Bundesgerichtshof entscheiden. Die Materie ist hoch kompliziert.

Berlin. Auf die Entscheidung wird schon seit Monaten mit Spannung gewartet: Der 4. Senat des Bundesgerichtshofs (BGH) bewertet am 1. Februar in Karlsruhe ein Urteil des Landgerichts Berlin, das in die Justizgeschichte einging und bundesweit an Gerichten und juristischen Fakultäten kontrovers diskutiert wird.

Es geht um den so genannten Kudamm-Raser-Prozess. Der damals 27-jährige Hamdi H. und der zwei Jahre jüngere Marvin N. führten am 1. Februar 2016 kurz nach Mitternacht in ihren PS-starken Autos in der City West ein Autorennen durch und rasten mit bis zu 170 Stundenkilometern über den Kurfürstendamm; dabei auch zehn Mal über Kreuzungen, bei denen für sie „rot“ angezeigt wurde. Ziel war das Kaufhaus Peek & Cloppenburg am Tauentzien 19.

Doch vorher gab es den tödlichen Crash: An der Kreuzung Tauentzien- Ecke Nürnberger Straße – hier stand die Ampel für die Autoraser schon 17 Sekunden auf „rot“ – prallte Hamdi H. mit seinem Audi A6 gegen einen von rechts kommenden Jeep. Die gesamte Energie des Audi übertrug sich auf den Geländewagen, der förmlich durchstoßen wurde und 70 Meter weit durch die Luft flog. Marvin N.s Mercedes CLA kollidierte Sekundenbruchteile später mit dem Audi und schleuderte gegen die Granitbegrenzung des Mittelstreifens. Der 69 Jahre alte Fahrer des Jeeps, ein Arzt im Ruhestand, wurde tödlich verletzt. Zeugen beschrieben die Szenerie als „Schlachtfeld“. Es sei pures Glück, dass nicht noch weitere Menschen zu Schaden kamen.

Erst ging es um Totschlag – und später um Mord

Unmittelbar nach der Karambolage konnten Hamdi H. und Marvin N. noch davon ausgehen, wegen fahrlässiger Tötung bestraft zu werden. Die Höchststrafe beträgt fünf Jahre, in der Praxis liegt das Strafmaß jedoch häufig noch weit darunter. So wurden im Sommer 2016 zwei Kölner Autoraser, die den Tod einer 19-jährigen Radfahrerin verursachten, lediglich zu Jugendstrafen von 16 und 20 Monaten verurteilt, ausgesetzt auf Bewährung.

Im Juli 2017 hob der Bundesgerichtshof dieses Urteil auf. Auch unter ausdrücklichem Verweis auf das allgemeine Rechtsempfinden. Letztlich muss das Landgericht Köln in einem neuen Verfahren aber nur prüfen, ob die Strafen tatsächlich zur Bewährung ausgesetzt werden sollten. Bei dem Vorwurf der fahrlässigen Tötung – davon waren der Kölner Staatsanwalt und das Kölner Landgericht ausgegangen – blieb es.

Die Anklage gegen die Raser lautete: Mord aus niedrigen Beweggründen

Ganz anders war dagegen die Wertung der Berliner Staatsanwaltschaft im Fall der Kudamm-Raser. Hier wurde mitgeteilt, dass angesichts des außergewöhnlichen Falles ein Verfahren wegen Totschlages eingeleitet werde. Später gingen die Ermittler sogar noch einen Schritt weiter: Staatsanwalt Christian Fröhlich verfasste eine Anklage wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen und mit gemeingefährlichen Mitteln.

Illegalen Autorennen in Berlin - eine Chronik

Es war damals bis zum Schluss offen und wurde schon im Moabiter Kriminalgericht viel diskutiert, wie das Schwurgericht entscheiden würde. Als am 27. Februar 2017 von Richter Ralph Ehestädt die Strafen verkündet wurden, wirkte der Angeklagte Hamdi H. wie erstarrt. Alle anderen im überfüllten Saal 700 des Moabiter Kriminalgerichts setzen sich, um die Urteilsbegründung zu hören. Aber der 27-Jährige blieb stehen, noch 20 Minuten lang, fassungslos, entsetzt, ungläubig.

Die Richter sahen keine Tötungsabsicht, aber „bedingten Vorsatz“

Erstmals in der deutschen Rechtsgeschichte wurden Teilnehmer eines illegalen Autorennens, das tödlich endete, wegen Mordes mit gemeingefährlichen Mitteln verurteilt. In der Konsequenz setzte es für Hamdi H. und Marvin N. lebenslängliche Freiheitsstrafen. Das war und ist für viele schwer verständlich, angesichts der Tatsache, dass diese Höchststrafe ansonsten eigentlich Sexualmörder oder Raubmörder bekommen.

Wie kompliziert die Rechtslage ist, wurde bei der Urteilsbegründung deutlich. Die Kammer gehe davon aus, dass „beide Angeklagten keine Tötungsabsicht“ hatten, so der Richter. „Wir reden hier aber von einem bedingten Vorsatz“, und auch der könne zu einer Verurteilung wegen Mordes führen. Bedingter Vorsatz bedeutet: Die Täter haben um die Gefahr ihres Handelns gewusst und es trotzdem nicht unterlassen, die Tat auszuführen.

Und sie haben zwar keine folgenschweren Konsequenzen eingeplant – wie zum Beispiel den Tod eines anderen Verkehrsteilnehmers. Es war ihnen zum Zeitpunkt des Autorennens letztlich aber egal, ob es derartige tödliche Konsequenzen geben könnte.

Obwohl nur Hamdi H. den Jeep traf, wurde Marvin N. als Mittäter verurteilt

Beides sah das Schwurgericht in diesem Fall gegeben: „Die Angeklagten waren weder alkoholisiert noch übermüdet, sie waren voll einsatzfähig und haben ganz bewusst alle Bedenken in den Wind geschlagen“, urteilte Ehestädt. Das Risiko, dass auch die eigene Gesundheit und das eigene Auto dabei gefährdet werden könnten, sei „ausgeblendet worden“.

Der Richter schilderte noch einmal, wie es zu dem Rennen kam: Beide Angeklagten hätten zunächst an einer Kreuzung unweit des Adenauer Platzes nebeneinander gestanden. Hamdi H. sei mit seinem Audi losgerast. Marvin N. habe „zunächst vernünftig reagiert“ und sei normal losgefahren. Als ihn Hamdi H. an der nächsten Kreuzung jedoch erneut „zu einem Rennen animierte“, habe Marvin N. sich nicht mehr zurückhalten können.

„Das ist ja die Eigenart der Raserszene, da gibt es keine Detailabsprache“, so der Richter. „Man taxiert das andere Fahrzeug, schätzt die Leistung ein, und dann geht es los – weil man gewinnen will, zur Steigerung des Selbstwertgefühls und für das Ansehen in der Szene.“ Zusammengeprallt mit dem Jeep sei dann zwar nur Hamdi H. mit seinem Audi. Da Marvin N. sich aber aktiv an dem Rennen beteiligt habe, müsse er als Mittäter bestraft werden.

Marvin N.: „Wir ficken die Straße!“

Wichtig für das Urteil sei auch die Einschätzung, wie die Angeklagten an dieses Rennen herangegangen seien, ebenso ihre Persönlichkeit und ihr Vorleben, sagte der Richter. Beide hätten in den vergangenen zwei Jahren im Straßenverkehr zahlreiche Ordnungswidrigkeiten begangen. Bei Hamdi H. waren es 16, mehrere wegen stark überhöhter Geschwindigkeit.

Zudem gibt es Vorstrafen wegen Fahrerflucht und fahrlässiger Körperverletzung im Straßenverkehr. In einem weiteren Verfahren, hatte er Autofahrer durch bewusst langsames Fahren provoziert und sei vor ihnen Zickzack gefahren. In seinem Bekanntenkreis hatte er den Spitznamen „Transporter“ – wie der Held aus dem gleichnamigen Actionfilm, der riskanteste Touren ohne Fahrfehler meistert.

Für Marvin N. wurden sogar 21 Ordnungswidrigkeiten vermerkt. Zeugen beschrieben ihn als arrogant, selbstgerecht, er sei ein „Protzer“. Im Prozess hatte die Staatsanwaltschaft ein Video vorführen lassen, in dem Marvin N. zu sehen ist, wie er – lange vor dem tödlichen Rennen – durch die City West fährt. Dazu seine Stimme: „Das ist der Lifestyle. Ku’damm, Alter. Wir ficken die Straße!“ Auch dieses Video wurde von Richter Ehestädt in seiner Urteilsbegründung noch einmal erwähnt.

Hamdi H.’s Anwalt: „Dann können wir unseren Rechtsstaat vergessen!“

Hamdi H.s Anwalt Peter Zuriel, eigentlich bekannt für seine Ruhe und Sachlichkeit, sagte beim Verlassen des Gerichtssaals zu den Fernsehteams und Reportern: „Vor Ihnen steht ein ungeheuer wütender Verteidiger!“ Das Urteil sei nicht zu akzeptieren. Natürlich werde man in Revision gehen. Den Einwurf eines Journalisten, dieses Urteil könne ja auch vor dem Bundesgerichtshof standhalten, beantwortete er: „Dann können wir unseren Rechtsstaat vergessen!“

In seinem Plädoyer hatte Zuriel argumentiert, dass sein Mandant davon ausgegangen sei, keinen Unfall herbeizuführen. „Er hat ein Autorennen geführt, wollte gewinnen – zur Selbstbestätigung.“ Dabei habe er sich „erheblich überschätzt und darauf vertraut, dass alles gut geht“, so Zuriel. Es habe keinen bedingten Vorsatz gegeben. In der Konsequenz könne Hamdi H. nur wegen fahrlässiger Tötung verurteilt werden.

Waren sie zu sehr mit Testosteron zugeschüttet, um die Situation einschätzen zu können?

Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird diese Argumentation bei der Verhandlung vor dem Bundesgerichtshof einer der Knackpunkte sein. Die schwierige Einschätzung, was die Täter gedacht haben könnten, als sie aufs Gaspedal traten. Ob sie tatsächlich darauf vertrauten, dass die an Wahnsinn grenzende Raserei in der Innenstadt gut gehen werde, oder ob ihnen in diesem Moment alles egal war.

Da gibt es vieles zu klären: Waren sie mit Testosteron vielleicht derart zugeschüttet, dass sie nicht mehr real einschätzen konnten, was sie taten? Wollten sie es wirklich sehenden Auges darauf ankommen lassen, ihre teuren Autos zu Schrott zu fahren? Haben sie sich – wie Zuriel argumentiert – einfach nur kolossal überschätzt?

Zuriel bezog sich dabei auch auf ein Gutachten der Fachpsychologin für Verkehrspsychologie Jacqueline Bächli-Biétry. Sie schätzte ein, dass Hamdi H. aufgrund seiner eingebildeten Fähigkeiten und einer narzisstischen Selbstüberhöhung davon ausging, andere Verkehrsteilnehmer nicht ernsthaft zu gefährden. Das würde einen bedingten Vorsatz ausschließen.

Jura-Professoren stützen das Mord-Urteil

Andere Experten, wie die Jura-Professoren Elisa Hoven und Michael Kubiciel, gehen in ihrem Aufsatz „Die Strafbarkeit illegaler Straßenrennen mit Todesfolge“ davon aus, dass die Ange-klagten wussten, was sie taten – also mit bedingtem Vorsatz handelten. Sie hätten „ihre Fahrzeuge über eine beträchtliche Wegstrecke in fahrerisch anspruchsvollen Situationen sicher geführt“, seien sich offenkundig des „besonders großen Gefahrenpotenzials bewusst“ gewesen und dennoch weitergefahren, heißt es. „Mit jeder überfahrenen Ampel stieg das Risiko.“

Die beim Einbiegen eines anderen Fahrzeugs blitzartig entstehende Gefahrensituation hätten sie auch mit großem fahrerischen Können nicht mehr entschärfen können. In der Konsequenz „haben die Angeklagten den tödlichen Ausgang im Rechtssinne hingenommen“.

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