Seit 25 Jahren verlegt Gunter Demnig Stolpersteine im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus – in Berlin, in Deutschland, in ganz Europa.
Gunter Demnig – der Erfinder der Stolpersteine – ist gerade dabei, zwei Steine in die Erde zu versenken. Das geht schnell, wie meistens. Er klopft, er schüttet ein Betongemisch, buddelt, ein Knie geschützt durch einen ramponierten Knieschoner. Dann putzt er den Stein, und jemand legt zwei weiße Rosen daneben. Um ihn herum ist einiges los. Er ist heute in Bamberg, es ist kalt und neblig an diesem Morgen. Rund 15 Menschen stehen vor dem Haus, auch Evelyn Ehrlich, eine 67-jährige New Yorkerin, die eine kleine Rede halten wird. Sie wirkt nervös in ihrem schönen Kleid, holt aus ihrer Handtasche eine Zigarette hervor, zündet sie sich an. Und dann ist da Helmut Müller, der Vertreter der Stadt Bamberg, der sich bei Evelyn Ehrlich bedankt, dass sie den „weiten Weg auf sich genommen hat“. Er wirkt noch nervöser. Fast hilflos gibt er zu, dass die Pressestelle vom Rathaus ihm seine kleine Rede vorbereitet habe. Dann beginnt er: „Bertolt Brecht hat einmal gesagt, dass ein Mensch erst wirklich dann tot ist, wenn niemand mehr an ihn denkt.“
Gunter Demnig kennt diese Reden, er kennt die Weitgereisten, diese Stimmung, die entsteht, wenn sich Menschen an einem Morgen versammeln, um Toten zu gedenken, die eines Tages einfach abgeholt wurden. Auf den beiden Steinen von Max und Lina Ehrlich, um die es heute geht, steht: „Ermordet in Auschwitz“.
Demnig ist derjenige, der vor 25 Jahren den ersten Stein verlegt hat, in Köln, in einer Guerilla-Aktion, ein „Kunstprojekt“. Schon damals hat er einen Lederhut getragen. Demnig hat jetzt rund 63.000 Steine verlegt, in 21 Ländern. Demnächst folgt der erste in Lettland. Immer sind darauf die Namen der Deportierten, Entrechteten, Ermordeten. Darunter steht ihr Geburtsjahr und was mit ihnen passierte. Die erste Zeile ist fast die wichtigste, sie verbindet das Damals mit dem Jetzt: „Hier wohnte …“, „Hier lehrte …“, „Hier arbeitete …“
In diesem Monat ist ein umfassendes Buch erschienen über seine Arbeit. Wer es liest, versteht langsam, wie übermenschlich groß, wie allumfassend dieses Projekt in den vergangenen Jahren geworden ist. Die Stolpersteine liegen auf Marktplätzen und vor Hochhäusern, sogar im Wald hat Demnig einen Stein verlegt. Es geht ihm nicht um Vollständigkeit, sondern darum, dass „gewürdigt wird, was einmal war“.
„Einmal fand eine Verlegung direkt an einem NPD-Wahlstand statt“, sagt er. Und dann gab es den Mann aus Honolulu, der den Vater seines Großvaters im Internet eingab und so erfuhr, dass für ihn in wenigen Tagen ein Stein in Oslo verlegt werden würde. „Und so stieg der Mann in ein Flugzeug und war dann dabei.“ Fast wundert Demnig noch immer, was er auslöst, mit diesem Kunstwerk. Manchmal rührt es ihn noch wie beim ersten Mal; wie die beiden Kinder, die von ihren Eltern im Zweiten Weltkrieg kurz vor deren Tod noch mit dem Kindertransport verschickt wurden. „Einer war in Kolumbien, der andere lebte in England.“ Sie trafen sich in Rothenburg.
Es macht etwas mit einem, wenn man durch die Länder reist, im vergangenen Jahr war er 270 Tage unterwegs, und an Menschen gedenkt, die gefoltert und ermordet wurden. Wer das Bild aus dem Buch von Gunter Demnig vor 20 Jahren neben das von heute hält, erkennt ihn kaum wieder. Doch wer mit ihm spricht, sieht auch, dass es erfüllend sein muss, diese Arbeit. Er sagt, er könne wohl ohne die Steine nicht mehr leben. Eingebracht haben ihm die Steine um die 60 Preise (darunter das Bundesverdienstkreuz), viele Feinde („Manche Stadträte haben Angst, dass die Menschen wirklich stolpern!“), viele ungewöhnliche Begegnungen und schließlich seine Frau Katja.
Sie ist Anfang 40 und hat vor fünf Jahren ebenfalls ein Stolperstein-Projekt betreut, als er sie traf. Jetzt sind sie verheiratet und beenden einander die Sätze. Sie reist mit ihm mit, trägt ab und zu die schweren Steine und passt auf, dass er auch mal Urlaub macht – oder einfach zu Hause ist und die beiden Katzen „Milhouse“ und „Lisa“ streichelt. Manchmal übt sie, ob sie nicht auch irgendwann einmal einen Stein einschlagen könne. Gunter Demnig: „Du kannst dich ja an der Mauer zu Hause versuchen, dann sehen wir weiter.“
In Berlin wurde der erste Stein übrigens am Moritzplatz verlegt, damals im Jahr 1996, natürlich in Kreuzberg – seine Heimat, als er in den 60ern für einige Jahre in der Stadt lebte. „Es sollte eine Kunstaktion sein, für ein paar Wochen“, sagt er, „wir haben dann drei Steine während der Vernissage verlegt.“ Erst Jahre später folgte ein zweiter Stein in Mitte im Jahr 2000 und schließlich zogen die anderen Stadtteile nach. „Innerhalb von sechs Jahren hatten wir dann in ganz Berlin Steine. Ein besonderes Projekt entstand in der Thomasius-straße in Moabit, wo die Bewohner der Straße alle Namen von Menschen recherchierten, die deportiert wurden. Inzwischen wurden alle 105 Stolpersteine verlegt.
Gunter Demnig wird in der kommenden Woche 70 Jahre alt, aber auch dann wird er den Geburtstag nicht feiern. „Ich habe mir gedacht“, sagt seine Frau Katja, „wenn er so gerne arbeitet, dann ziehen wir an seinem Geburtstag eben um.“ Sie haben ein Haus gefunden, in Alsfeld bei Fulda. „Dort ist auch genug Platz für die Klangkunstwerke von früher.“ Es gibt auch einen Gunter Demnig vor den Stolpersteinen.
In Bamberg, am Mittwochmorgen steht Evelyn Ehrlich und erzählt von ihrer Familie. Sie liest vom Zettel ab: „Von meiner frühesten Kindheit an wusste ich, dass meine Großeltern ermordet wurden, weil sie Juden waren. Es war immer ein Teil von mir, ein Grund für Albträume und Jahre der Psychotherapie. Dabei habe ich Max und Lina niemals kennengelernt.“ Und nach einer kleinen Pause sagt sie: „Es erfüllt mich mit Stolz, dass es Menschen in Deutschland gibt, die nicht vergessen haben.“ Gunter Demnig und seine Frau Katja stehen am Rand und hören zu. In seinem linken Augenwinkel glänzt es. Er sagt, er hatte gerade ein Gerstenkorn. „Das ist noch nicht ganz ausgestanden.“