Wie soll die Stadt mit Obdachlosen umgehen, welche Hilfen sind möglich? Diese Frage ist vor allem seit den Diskussionen um die im Großen Tiergarten campierenden Menschen ein zentrales Thema. Wir sprachen mit Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) über die Politik für Wohnungslose.
Frau Breitenbach, was erwarten Sie persönlich von der Taskforce zum Tiergarten?
Elke Breitenbach: Wir müssen uns darüber verständigen, wie wir das Problem im Tiergarten lösen. Eingebunden sind die Senatsverwaltungen für Soziales, Gesundheit, Justiz und Inneres sowie die beiden Bezirke Mitte und Charlottenburg-Wilmersdorf. Wir wollen über diese Arbeitsgruppe hinaus eine gemeinsame, langfristige Strategie entwickeln, wie wir mit bestimmten Gruppen unter Obdachlosen umgehen.
Welche Gruppen meinen Sie?
Menschen, die aus anderen EU-Ländern kommen, ihr Recht auf Freizügigkeit wahrnehmen und aus unterschiedlichen Gründen in der Stadt gestrandet sind. Sie haben keinen Anspruch auf Sozialleistungen, weil die Bundesregierung das in den vergangenen Jahren immer weiter eingeschränkt hat. Normalerweise ist die Hilfe für Wohnungslose und Obdachlose so ausgelegt, dass man den Menschen einen Weg aufzeigt, um aus dieser Misere rauszukommen und sie ins normale Regelsystem bringt, in dem sie Leistungen erhalten. Das ist für diese Gruppe kaum möglich. Wir dürfen sie nicht einmal längerfristig unterbringen, das ist vom Bundesgesetzgeber untersagt. Ihnen bleibt lediglich die Kältehilfe, weil es hier ums Überleben geht. Sie haben keinen Anspruch auf eine gesundheitliche Beratung oder Versorgung, außer, es besteht Lebensgefahr.
Wie beurteilen Sie das Ergebnis der ersten Sitzung der Taskforce? Ist der geplante Abbau der Zelte der richtige Weg?
Entscheidend ist der richtige Mix. Einfach Camps auflösen, ist keine Lösung. Dann verdrängen wir nur die Leute vom Tiergarten. Ohne die sozialen Angebote der Wohnungslosenhilfe wird es nicht klappen. Dazu müssen wir möglicherweise auch neue Wege gehen und Modellprojekte ausprobieren. Aber das ist Sache des Haushaltsgesetzgebers. Soziale Probleme kann man weder ausweisen noch verdrängen.
Welche Möglichkeiten sehen Sie?
Wir sind seit Längerem mit Akteuren der Wohnungslosenhilfe im Gespräch und loten Möglichkeiten aus. Vorstellbar wäre ein Modellprojekt wie es in Berlin bereits für Roma-Familien existiert. Auch die Roma sind EU-Bürger. Der „Aktionsplan Roma“ des Senats sieht Übergangswohnungen vor. Im Einzelfall wird geprüft, welche Ansprüche die Menschen auf Leistungen haben und welche Unterstützung sie benötigen – zum Beispiel, wenn sie Opfer von Arbeitsausbeutung sind. Wenn sie mit dieser Hilfe dann auf eigenen Beinen stehen, können sie sich ein eigenes Leben aufbauen und sich selbst eine Wohnung suchen. Hier gibt es positive Erfahrungen. Ein solches Modellprojekt käme allerdings nur einer geringen Anzahl von Menschen zugute. Wir reden hier aber von vielen. Die neue Bundesregierung sollte sich dieses immer dramatischer werdenden Problems annehmen und den Bezug von Sozialleistungen und anderen Unterstützungsmöglichkeiten ermöglichen.
Der Bezirksbürgermeister von Mitte, Stephan von Dassel, fordert, dass osteuropäische Obdachlose, die sich zunehmend aggressiv verhalten, abgeschoben werden. Ist das für Sie eine Lösung?
Wenn jetzt der Ruf nach Abschiebung kommt, dann frage ich mich, auf welcher Grundlage und was die Lösung sein soll. Wenn die Menschen im Tiergarten schlafen, dann ist das eine Ordnungswidrigkeit. Man kann sie wegschicken, aber dort zu zelten ist kein Abschiebungsgrund. Obdachlos zu sein ist eine schwierige Situation für die Betroffenen, aber nicht verboten. Im Tiergarten geht es auch um etwa 15 aus ihren Herkunftsländern geflüchtete Männer, die volljährig sind und sich prostituieren. Auch Prostitution ist nicht verboten. Die Männer brauchen Hilfsangebote. Sie werden auch von Sozialarbeitern betreut. Abschiebung ist jedenfalls keine Lösung. Wenn das das Ergebnis der Freizügigkeit in Europa ist, stellen wir Europa infrage – und das wollen wir alle nicht. Diese Menschen sind in einer verzweifelten Lebenssituation und brauchen Hilfe.
Unter den Obdachlosen im Tiergarten reagieren aber viele sehr aggressiv. Sind solche Menschen überhaupt für Hilfsangebote offen?
Das ist unterschiedlich. Es gibt nicht den einen Obdachlosen. Manche trinken gar keinen Alkohol, andere halten es in geschlossenen Räumen nicht aus, wieder andere nehmen Angebote wie Notunterkunft und Kältehilfe deshalb nicht wahr, weil sie dort über mehrere Stunden keinen Alkohol zu sich nehmen dürfen.
Was will Rot-Rot-Grün anders machen in der Politik für Wohnungslose?
Wohnungslosenhilfe muss mehr sein als nur Notfallunterbringung, Notfallmedizin und Notfallrettung. Wir brauchen ein System, das Angebote vorhält, für Menschen, die auf der Straße leben und für Wohnungslose, damit sie wieder in ein normales Leben zurückfinden. Natürlich brauchen wir die Notfallhilfe. Wenn die Bahnhofsmission kein Essen ausgeben würde, hätten Obdachlose nicht einmal etwas zu essen. Aber es muss mehr geschehen. Wir können uns nicht damit zufrieden geben, Menschen davor zu bewahren, auf der Straße zu erfrieren oder zu verhungern. Wir brauchen auch mehr Beratungs- und Unterstützungsangebote.
Was soll konkret geändert werden?
Die Wohnungslosenhilfe muss umstrukturiert werden, damit die Hilfe auch bei den Menschen ankommt, die sie benötigen. Ein großer Teil der Angebote zielt auf die ab, die männlich sind, deutsch und zwischen 35 und 50 Jahre alt. Aber wir haben zunehmend obdachlose Frauen und Familien und auch Obdachlose aus anderen Herkunftsländern. Wir haben auch mehr ältere und behinderte Betroffene, das ist deutlich im Straßenbild zu sehen. Es gibt auch Hinweise auf demente obdachlose Menschen. Wir müssen uns in unseren Angeboten auf all das einstellen. Das heißt: Ich möchte, dass wir Arten der Unterbringung entwickeln, dass es dafür Mindeststandards gibt und eine individuelle Beratung der Obdachlosen.
Von welchen Zahlen gehen Sie aktuell aus?
Wir haben zunehmend mehr Menschen, die in Berlin keinen bezahlbaren Wohnraum finden. Rund 18.000 Haushalte, das sind fast 31.000 Menschen, sind nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz in Einrichtungen freier Träger untergebracht oder in betreuten Wohngemeinschaften. Die Schätzungen derer, die auf der Straße leben, liegen zwischen 5000 und 8000.
Wie viele Plätze gibt es in der Kältehilfe und in ganzjährigen Notunterkünften?
In der Kältehilfe hatten wir im vergangenen Winter 920 Plätze, dieses Jahr wollen wir 1000 Plätze bereitstellen und beginnen diese Saison Anfang November mit 850 Plätzen. Wir haben 135 Plätze in ganzjährigen Notunterkünften, außerdem 30 Plätze für Familien mit Kindern. Das Angebot für Familien wollen wir auf 100 Plätze erhöhen und 40 weitere Plätze für obdachlose Männer und Frauen schaffen. Dafür haben wir Mittel im Haushaltsplan vorgesehen.
Reichen die Plätze in der Kältehilfe aus, um durch den Winter zu kommen?
Davon gehen wir aus. In den vergangenen Jahren lag die Auslastung bei durchschnittlich 93 Prozent. Wir wollen für die Kältehilfe auch Traglufthallen und Hangars nutzen. Hangars bieten über das Bett hinaus Aufenthaltsräume, Duschen und Toiletten. Duschen sind nicht selbstverständlich in der Kältehilfe. Wir wollen auch freigezogene Flüchtlingsunterkünfte nutzen, bei denen ohnehin die Nutzungsverträge noch laufen, so wie zum Beispiel an der Paulsternstraße in Spandau. Dabei sind wir mit den Bezirken im Gespräch, denn sie sind für die Kältehilfe zuständig. Das ist alles in allem schwieriger, als ich dachte. Wir brauchen vor allem mehr Unterkünfte von den Bezirken in der Innenstadt. Dies ist schwierig.
Bezirke klagen, zum Beispiel Friedrichshain-Kreuzberg, es gebe zu wenige Sozialarbeiter, die sich um Obdachlose kümmern.
Das überrascht mich. Dafür sind zunächst mal die Bezirke selbst zuständig. Jetzt zu sagen, „Land Berlin, zahl du mal“, ist zu einfach. Wir müssen die Aufgaben schon gemeinsam angehen.
Aber der Senat plant doch, im Landeshaushalt mehr Geld für die Betreuung von Obdachlosen einzustellen. Geht es da nicht um zusätzliche Sozialarbeiter?
Zu den bisherigen 6,1 Millionen Euro pro Jahr sollen 2,5 Millionen Euro hinzukommen. Dafür soll zunächst eine gesamtstädtische Steuerung der Wohnungslosenhilfe geschaffen werden, eine zentrale Stelle, die auch Wohnungen im Geschützen Marktsegment aufspürt. Bislang versucht jeder Bezirk für sich, über die soziale Wohnungshilfe obdachlose Menschen unterzubringen. Das gelingt ihnen aber zunehmend weniger. Wir stellen außerdem das Geld für die zusätzlichen Plätze in den ganzjährigen Notunterkünften bereit. Auch die Projekte der Stadtmission bekommen mehr Geld. Mit der Gesundheitsverwaltung arbeiten wir an einem Konzept zur gesundheitlichen Versorgung Obdachloser. Welche Projekte der Sozialarbeit für Obdachlose schließlich gefördert werden, entscheiden wir gemeinsam mit der Liga der Wohlfahrtsverbände nachdem der Haushalt beschlossen ist.
Stellen auch private Vermieter Wohnungen im Geschützten Marktsegment zur Verfügung?
Auch das ist unterschiedlich, private ja, aber mehr Wohnungsgesellschaften. Wir brauchen deutlich mehr Wohnungen im Geschützten Marktsegment, das haben wir auch so im Koalitionsvertrag festgehalten. Allerdings gibt es noch ein weiteres Problem. Die von freien Trägern betriebenen Wohnungen zur Unterbringung von zum Beispiel Wohnungslosen und andere Beratungsstellen der sozialen und gesundheitlichen Infrastruktur brechen uns reihenweise weg. Das sind rechtlich gesehen immer Gewerberäume – und die können sehr schnell gekündigt werden.
Werden die Obdachlosen statistisch erfasst?
Wir wollen die Datenlage verbessern. Wir benötigen Daten, um zu prüfen, ob die Hilfsangebote ausreichend sind. Damit können wir aber erst nach den Haushaltsberatungen beginnen, denn wir müssen über Geld für Personal verfügen. Fakt ist: Die Stadt wächst und wir haben zunehmend auch mehr Obdachlose. Das merken wir alle, wenn wir in unserer Stadt unterwegs sind.
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