Werde ich es ihr ansehen? Werde ich an ihrer Kleidung, an ihrem Auftreten erkennen, dass sie mal im Bordell gearbeitet hat? Und dann sitzt Ilan Stephani vor mir, ungeschminkt, die langen Haare locker hochgesteckt, in Hoodie, Jeans und Sneakers. Das Gegenteil einer Klischee-Prostituierten.
Die 31-Jährige lächelt, als ich mich im Café zu ihr an den Tisch setze. Vielleicht ahnt sie, was in meinem Kopf vorgeht, welche Korrekturen ich auf den ersten Blick vornehmen muss. Dabei war eigentlich schon vor dem Treffen klar, dass mich hier keine Frau mit tiefrot geschminkten Lippen, Minirock und Lackstiefeln erwarten wird. Ilan Stephani hat ein Buch geschrieben, „Lieb und teuer“, es ist gerade erschienen. Darin beschreibt sie, warum sie zwei Jahre in Berlin als Prostituierte gearbeitet hat, was sie dabei erlebt hat, wie diese Erfahrungen ihr Leben und Denken verändert haben. Es ist kein verschämter Blick durchs Schlüsselloch, sondern eine sehr offene Auseinandersetzung mit dem Thema.
Großes Schweigen oder aufgeladene Debatten
In Deutschland arbeiten geschätzt mindestens 400.000 Menschen in der Prostitution, die meisten davon Frauen, der Umsatz im Rotlichtgewerbe liegt laut Statistischem Bundesamt bei 14,6 Milliarden Euro im Jahr. Und die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi geht davon aus, dass jeden Tag etwa 1,2 Millionen Männer bezahlten Sex haben. Allein der Andrang bei der Erotikmesse Venus, die gerade in den Messehallen unter dem Funkturm stattfindet, oder der zu fast allen Tageszeiten gut besuchte Parkplatz vor dem Großbordell „Artemis“ in Halensee wirken da wie Ausrufezeichen hinter solchen Zahlen. Ist Prostitution also eine normale Branche, ein ganz normaler Beruf? „Nein“, sagt Ilan Stephani, „ein ganz normaler Beruf ist es nicht, dafür ist er viel zu sehr mit Geheimnis, Tabus und auch Sehnsucht gefüllt.“ Das führe entweder zu großem Schweigen oder zu aufgeladenen Debatten.
Ilan Stephanis Auseinandersetzung mit Prostitution hat in dieser Hitzigkeit begonnen. Das Thema beschäftigte sie schon als Jugendliche. „Unsere Deutschlehrerin hat mit uns Alice Schwarzer im Unterricht gelesen.“ Die Gymnasiastin stand damals klar auf der Seite der Feministin Schwarzer, die seit vielen Jahren gegen Prostitution kämpft und gegen Interessenvertretungen wie den Berliner Verein Hydra wettert. „Prostitution, das war für mich patriarchalische Gewalt, Hydra das Feindbild.“ Gleich nach dem Abitur, das sie an ihrer Schule in einer niedersächsischen Kleinstadt als Jahrgangsbeste ablegte, zog die 19-Jährige nach Berlin, sie wollte an der Humboldt-Universität Philosophie und Kulturwissenschaft studieren. Und sie wollte sich ihrem Feindbild stellen.
Hydra veranstaltete damals in Berlin regelmäßig ein Frauenfrühstück, zu dem Prostituierte und Nichtprostituierte eingeladen waren. Ilan Stephani gefiel der Ansatz, und sie war neugierig, also ging sie hin. „Ich trug einen kurzen roten Rock, mein Shirt war aufregend ausgeschnitten und zur Feier des Tages verwendete ich sogar Lippenstift“, beschreibt sie im Buch. Ihr Outfit fiel auf, die anderen Frauen kamen in Jeans, sie unterhielten sich über ihren Sommerurlaub, selbst gemachte Marmelade und die Wartezeit für einen Kitaplatz. Die Abiturientin war enttäuscht, fragte die Frau neben sich: „Sag mal, ist das normal, dass hier keine Prostituierten kommen?“ Aber sie hatte sich getäuscht, die anderen Frauen waren Prostituierte, nur sie nicht. „Und dann gab es diesen Knall in meinem Kopf, als ich merkte, dass Prostitution Frauen nicht automatisch verändert.“ Die Schranke zwischen Prostituierten und Nichtprostituierten war für sie auf einmal weg.
Zwei Wochen später rief sie wieder bei Hydra an, ging zur Einstiegsberatung – sie wollte nur tagsüber und ohne Alkoholausschank arbeiten – und kam mit zwei Adressen wieder heraus. Die eine war bei ihr um die Ecke, sie fuhr mit dem Rad zu ihrem neuen Job. Diese Fahrt dorthin hat sie wie durch eine Brille gesehen: Die Geschäftigkeit auf der Straße, die Erwachsenen auf dem Weg ins Büro oder zum Einkaufen, die Kinder auf dem Weg zur Schule erschienen ihr ganz weit weg. „Führe ich jetzt schon ein Doppelleben?“, fragte sie sich.
Ihr neuer Arbeitsplatz war ein Wohnungsbordell in Wilmersdorf, es lag in einem Altbau, eine verwinkelte Wohnung voller Türen und Zimmer. In diesen Zimmern wurde sie zu Paula und empfing ihre ersten Freier. Es wurde geduscht, geredet, es gab bezahlten Sex, nette Kolleginnen und eine fürsorgliche Hausdame, im Hintergrund klingelte die Tür oder das Telefon, und immer drehte sich die Waschmaschine. So war es an all den Tagen, an denen Ilan Stephani hier arbeitete, zwei Jahre, ein- bis zweimal in der Woche. Klingt fast wie ein normaler Job mit paradiesischen Zuständen.
Ilan Stephani schüttelt den Kopf. Nein, ein Paradies sei das nicht gewesen, auch wenn sie nur wenige negative Erfahrungen mit Freiern gemacht habe. Aber sie weiß, dass es vielen Prostituierten anders geht, dass viele zur Prostitution gezwungen werden, dass es Menschenhandel, Kindesmissbrauch und Gewalt gibt. Und sie weiß, dass all das einen großen Teil der Prostitution ausmacht. Wie groß, dazu gibt es keine verlässlichen Zahlen, weil die meisten Fälle ja gar nicht aufgedeckt werden. Alice Schwarzer geht von mehr als 90 Prozent aus. Ilan Stephani sagt aber auch: „Zwangsprostitution ist ein Verbrechen an dem sexuellen Selbstbestimmungsrecht eines Menschen.“ Mit dem Tauschhandel Sex gegen Geld habe das nichts zu tun. Sie hält eine Differenzierung für sehr wichtig: Die Verbrechen müssten bekämpft werden, zugleich müsste aber auch eine sorgfältige Auseinandersetzung mit dem Phänomen Prostitution stattfinden.
Jugendliche bleiben mit ihren Fragen meist allein
„Prostitution ist der Kopfschmerz unserer Gesellschaft“, sagt sie, „man kann ein Leben lang Ibuprofen gegen die Kopfschmerzen nehmen oder Gesetze gegen Prostitution beschließen. Heilsamer aber ist es, die Gründe aufzulösen.“ Verbote würden nicht weiterhelfen, „wir glauben, ein Problem auf einer Ebene lösen zu können, auf der es nicht liegt“. Und es würde schon gar nicht den Opfern von Zwangsprostitution helfen. Nach dem neuen Prostitutionsgesetz, das seit Juli dieses Jahres gilt, müssen Prostituierte unter anderem einen Ausweis tragen. Viele bekommen ihn aber nicht oder wollen ihn auch nicht und rutschen so in die Illegalität oder in eine größere Abhängigkeit von ihrem Zuhälter.
Statt Verbote sollten Beratungsstellen finanziell und personell besser ausgestattet werden, sei es bei Migrationsstellen, bei sozialen Einrichtungen oder der Polizei, so der Vorschlag von Ilan Stephani. Es müsste Aufklärungsbroschüren auch in viel mehr Sprachen geben, und jede Frau müsste wissen, an wen sie sich im Notfall und zu jeder Tageszeit wenden kann. „Wir brauchen viel mehr niederschwellige Angebote.“
Auch eine bessere Aufklärung von Jugendlichen sei nötig. Auf dem Lehrplan steht zwar Sexualerziehung, aber da gehe es hauptsächlich um biologische Abläufe. Was sonst zum Sex gehört, alles Emotionale, aber auch Prostitution und sexuelle Gewalt, werde kaum thematisiert. Mit ihren Fragen bleiben Kinder und Jugendliche oft allein. So könnten sie eher in kritische Situation geraten.
Schamgefühl über ihre Arbeit im Bordell hat Ilan Stephani nicht. Daher spricht sie selbst im gut besuchen Café zwar nicht laut, aber doch für den Nachbartisch deutlich hörbar über ihre Erfahrungen. Die neugierig verstohlenen Blicke von nebenan scheint sie nicht wahrzunehmen. Sie wirken aber wie ein Beleg für ihre These: Prostitution berührt irgendwie jeden, aber keiner will damit etwas zu tun haben. Besonders, so ihre Erfahrung, treffe das auf Männer zu. „Wenn ich Freundinnen erzählt habe, dass ich im Bordell arbeite, waren sie neugierig, schlimm fand es kaum eine. Männer aber haben irritiert reagiert, manche wollten mich auch retten.“
Umfrage: 88 Prozent aller Männer hatten schon Sex mit Prostituierten
Zugegeben, dass er ins Bordell geht, hat jedenfalls in ihrer Gegenwart noch kein Mann. Dabei, so ihre Überzeugung aus zwei Jahren als Prostituierte, haben wohl die meisten Männer Erfahrungen. Recht gibt ihr dabei auch eine Umfrage der Frauenzeitschrift „Brigitte“: Demnach hatten 88 Prozent aller deutschen Männer schon Sex mit einer Prostituierten. Der erfolgreiche Professor, genauso wie der Student oder der Bankangestellte kam zu Ilan Stephani.
Sie ist heute 31 Jahre alt, fast zehn Jahre liegt ihre Arbeit als Prostituierte zurück. So lange habe sie gebraucht, um eine Haltung dazu zu gewinnen. Erst jetzt hat sie darum dieses Buch geschrieben. Ihr Philosophiestudium an der Humboldt-Universität hat sie abgebrochen, heute ist sie Körpertherapeutin und berät in erster Linie Frauen in ihrer Praxis. Das Studium im Bordell war dafür prägend, aber im Puff hätte sie nicht länger bleiben wollen. Auch wegen des Geldes: „Das ist extrem unsicher verdientes Geld, nie wusste ich, wie viel ich am Tag verdienen würde.“ Weniger als 50 Euro bekam sie anfangs für eine halbe Stunde – in Berlin war das zwar viel Geld in der Branche, aber es konnte sein, dass sie ein paar Stunden nur wartete und nichts verdiente.
Ausgestiegen ist sie aber vor allem, weil die Prostitution irgendwann zu sehr an ihren Kräften zehrte und zu viel Raum in ihrem Leben einnahm. Eine feste Beziehung hatte sie in diesen zwei Jahren nicht. „Die Dichte an sozialen Kontakten hat zwar auch den Reiz ausgemacht“, aber es war sehr anstrengend, sich immer wieder auf neue Männer einzustellen. „Als Prostituierte habe ich mich oft wie eine Therapeutin gefühlt, nur dass die besser bezahlt werden.“
Ilan Stephani: „Lieb und teuer. Was ich im Puff über das Leben gelernt habe“, Ecowin, 20 Euro.
Umstrittene Rechtslage
Neues Gesetz: Das „Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten“ trat am 1. Januar 2002 in Kraft. Deutschland bekam damit eine der liberalsten Regelungen in Europa. Prostitution ist seitdem nicht mehr sittenwidrig, und Verträge zum Zwecke der Ausübung der Prostitution, wie Mietverträge, haben vor Gericht bestand. Das Prostitutionsgesetz hat ausschließlich Bedeutung für die freiwillig ausgeübte Tätigkeit.
Menschenhandel: Zwangsverhältnisse gelten als Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung und sind eine Straftat. Das Gesetz ist bis heute heftig umstritten. Kritiker sind überzeugt, dass durch die Liberalisierung Zwangsprostitution zugenommen hat und die Bekämpfung von Menschenhandel schwieriger geworden ist. Die Zunahme von Sexarbeiterinnen hängt aber wohl vor allem mit der EU-Osterweiterung zusammen.
Überarbeitete Regelung: Seit Juli dieses Jahres gilt nun ein überarbeitetes Prostitutionsschutzgesetz. Demnach gibt es für Sexarbeiter nun eine Anmeldepflicht, und sie müssen den entsprechenden Ausweis mit sich führen. Außerdem müssen sie sich einer verpflichtenden Gesundheitsberatung unterziehen, zudem gibt es eine Kondompflicht. Die Umsetzung der Neuregelungen liegt in der Verantwortung der Bundesländer. Es gilt eine Übergangsfrist bis Ende des Jahres.